Arno Frank und das falsche Leben : Einmal Punk, immer Punk!
Angriffskrieg hin oder her: Wer auf der richtigen Seite der Geschichte steht, muss seine Meinungen nicht ändern.

taz FUTURZWEI | Wo immer gerade „Gechichte“ (Helmut Kohl) gemacht wird, wollen Hinz und Kunz „am Ende des Tages“ neuerdings schon immer auf der richtigen Seite der Geschichte gestanden haben. Ich finde das beneidenswert. Mich persönlich plagen permanent Zweifel, auch ändere ich hin und wieder meine Meinungen.
Wer auf der richtigen Seite der Geschichte steht, muss seine Meinungen nicht ändern. Er steht schließlich auf der richtigen Seite der Geschichte, hat’s immer schon gewusst und wird es auch immer wissen. Komme, was da wolle! Wer auf der richtigen Seite der Geschichte steht, hat sich gegen alle Wechselfälle der Geschichte immunisiert, jede Abwägung abgeschlossen – und damit einen Zustand der Unfehlbarkeit erreicht, der es ihm erlaubt, seine herbeibehaupteten Gewissheiten fortwährend in die Welt hinauszutrompeten. Wer seine Meinung nicht teilt, steht auf der falschen Seite der Geschichte und ist verdammt in alle Ewigkeit.
Ich weiß, wovon ich rede: Vor etwa 18 Jahren hat die taz einen Text von mir veröffentlicht, den ich so heute nicht mehr schreiben würde. Gefragt war eine starke Meinung, und zwar auf die Schnelle. Sicherheitshalber drehte ich sie mit dem Stilmittel der grotesken Übertreibung ins Satirische.
Bald stellte sich heraus, dass Angehörige einer „vulnerablen Minderheit“ meinen Text nicht als Glosse lesen konnten. So verletzt fühlten sich diese rechtschaffenen und sensiblen Menschen, dass mich für eine Weile täglich Mails des Inhalts erreichten, einem Schurken wie mir gehörten „mit einer rostigen Rasierklinge die Eier abgeschnitten“.
Irgendwann dämmerte mir, dass der Kulturkampf um das Thema immer radikaler geführt wurde – und meine Worte darin wirklich als Waffe eingesetzt wurden. Also habe ich den betreffenden Text eines Tages depublizieren lassen. Eine normale Suche bei Google wird keine Treffer liefern.
Nicht, weil ich den Text nicht geschrieben haben oder nachträglich rübermachen will auf die richtige Seite der Geschichte. Einfach, weil meine Meinung erstens nicht relevant ist, ich zweitens kein Kulturkämpfer und drittens nicht Journalist geworden bin, um irgendwen zu verletzen – erst recht keine „vulnerable Minderheit“.
taz FUTURZWEI, das Magazin für Zukunft – Ausgabe N°33: Wer bin ich?
Der Epochenbruch ist nicht mehr auszublenden. Mit ihm stehen die Aufrüstung Deutschlands und Europas im Raum, Kriege, Wohlstandverluste, ausbleibender Klimaschutz. Muss ich jetzt für Dinge sein, gegen die ich immer war?
Mit Aladin El-Mafaalani, Maja Göpel, Wolf Lotter, Natalya Nepomnyashcha, Jette Nietzard, Richard David Precht, Inna Skliarska, Peter Unfried, Daniel-Pascal Zorn und Harald Welzer.
Deshalb habe ich getan, was ich tun konnte, und die Mine sozusagen vergraben. Zufällig wird niemand jemals wieder darauf treten. Ihre weitere Verwendung als Waffe hat ganz allein zu verantworten, wer gezielt danach sucht, sie eifrig wieder ausbuddelt, reproduziert und all over the place verteilt. Er oder sie wird dafür schon irgendwelche Gründe haben. Der Schutz „vulnerabler Minderheiten“ jedenfalls gehört nicht dazu, im Gegenteil.
Hinzu kommt, dass Menschen sich ändern können. Innerhalb von 18 Jahren sowieso. Manchmal sogar von heute auf morgen. Klingt völlig verrückt, ich weiß. Aber sowas gibt’s.
Helmut Kohl beispielsweise. Was habe ich ihn früher verabscheut und verachtet! Heute muss ich zähneknirschend einräumen, dass dieser dicke Dummkopf immerhin und offensichtlich der letzte echte Europäer im Kanzleramt gewesen ist. Wovon ich freilich früher nichts wissen wollte, wähnte ich mich auf der richtigen Seite der Geschichte. Dort ist das Gras immerzu grüner als anderswo, dort räkele ich mich unablässig im Sonnenschein meiner Selbstgerechtigkeit. Dort ist meine Meinung eschatologisch begründet und damit, wie bei religiösen oder ideologischen Eiferern üblich, sub specie aeternitatis unverhandelbar bis ans Ende aller Tage.
Einmal Pazifist, immer Pazifist! Einmal Punk, immer Punk! Punkt. Ganz egal, ob neuerdings ein Angriffskrieg im Haus steht oder mit dem Alter irgendwann die Erkenntnis reift, dass die Sinfonien von meinetwegen Sibelius ästhetisch vielleicht irgendwie doch ergiebiger sind als drei Akkorde und „die Wahrheit“.
Nicht die intellektuellen Wechselwähler werden uns in den Abgrund führen, fürchte ich, eher schon die vulnerable Minderheit frühvergreister Immerschonbescheidwisser. Aber auch das ist jetzt nur meine Meinung. Kann sein, dass ich das in 18 Minuten anders sehe. Oder in 18 Jahren.
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