Profil-Einstellungen
Login Kommune
Hier könnten Ihre Kommentare stehen
Herzlich willkommen.
Auch Sie haben eine Stimme und auch die soll gehört und gelesen werden.
Hier werden alle Kommentare gesammelt, die Sie verfassen. Außerdem können Sie Kontaktmöglichkeiten hinterlegen und sich präsentieren.
Wir freuen uns, wenn Sie die taz.kommune mit Ihren klugen Gedanken bereichern.
Viel Freude beim Lesen & Schreiben.
meine Kommentare
01.08.2022 , 16:56 Uhr
Den Roman finde ich ja gar nicht antstößig, sondern genial (ich hätte auch schreiben können: „Das eigentlich Geniale an Kertész' erstem Roman ist…“). Anstößig fanden ihn aber alle, die Kertész im Namen eines offiziellen (sozialistischen bzw. materialistischen) Geschichtsverständnisses entmündigen und ihn in die Rolle eines bloßen Opfers (etwa als „Verfolgter des Naziregimes“) drängen wollten. Gegen diese „Berufshumanisten“ (wie er sie in seinem zweiten großen Roman „Fiasko“ bezeichnet) hat er sich mit seinem ironischen ersten Roman positioniert. Unter der Maske eines Opfers - das nach Lyotard ja stumm bleiben müsste - spricht er mit seiner eigenen Stimme und erklärt, was er für das Wesentliche an Auschwitz hält: und zwar den Verlust der kulturellen Werte bzw. den Verlust der persönlichen Verantwortung, der uns auch heute noch betrifft, nicht die konkreten Gräuel in den Lagern, mit denen sich ein gewöhnlicher Romanleser allenfalls voyeuristisch befassen könnte. Nun finde ich es aber irritierend, wenn auch im Westen die etablierte Literaturktik nicht auf diesen wichtigen Punkt eingeht und so tut, als wäre der „Roman eines Schicksallosten“ nur ein raffiniert geschriebener Zeugenbericht. Zum einen verkleinert dies Kertész als Autor (obwohl man ihn angeblich so sehr achtet), zum anderen wird damit ein erhellender Beitrag zum Diskurs über den Zustand unserer Kultur ausgeblendet. Immerhin hat Kertész selbst aber in Interviews, Essays und auch in seinen erzählerischen Schriften genügend Hinweise zum adäquaten Verständnis seines Werks gegeben.
zum Beitrag31.07.2022 , 02:50 Uhr
Das eigentlich Anstößige an Kertész' erstem Roman war, dass er eine Parodie auf die einschlägige Lager-Literatur (wie z.B. „Die lange Nacht“ von Fritz Selbmann) darstellt. Im Grunde handelt das Buch nämlich überhaupt nicht von Auschwitz und Buchenwald, wohin Kertész 1944 verschleppt wurde, sondern von seiner geistigen Entwicklung seit Mitte der 50er Jahre, als er in Budapest zu schreiben begann. Der für ihn wichtige Gegenstand war also nicht die „Geschichte“, sondern seine persönliche Bemühung, sich vom „funktionalen“ Massen-Menschen zu unterscheiden (und „Glück“ dürfte er wohl eher bei dieser „Arbeit an sich selbst“ als im Arbeitslager der Nazis empfunden haben). Das neu veröffentlichte Tagebuch (19. und 21.03.1960) zeigt, dass er es schon früh als ungenügend erkannte, seine „Erinnerung“ an das KZ durch „Poesie“ zu verklären: „So etwas kann … nicht Intention und Gehalt, sondern nur Ingredienz eines Romans sein.“ Auffällig werde das vor allem bei der „Beschreibung des Alltags im roten Zimmer“ (in der Krankenstation des Lagers Buchenwald), weil hier die Handlung stagniere. Kertész‘ Lösung bestand darin, sein Lager-Erlebnis im Roman nur als ein ironisches Motiv zu verwenden. In Wirklichkeit deutet es auf seine spätere literarische Arbeit, für die er sich an Autoren wie Kant, Nietzsche oder Th. Mann orientiert hat. Letztere verbergen sich eben hinter den Personen, denen der Protagonist Köves in der Krankenstation begegnet. Das ist nicht allzu schwer zu erkennen, in der Regel - wie auch im vorliegenden Artikel - wird es jedoch nicht thematisiert und man scheint den Roman lediglich als einen gut geschriebenen Erlebnisbericht wahrzunehmen. Kertész selbst bemerkt zu dieser mangelhaften Rezeption im Tagebuch „Letzte Einkehr“ (11.06.2008): „Nun wird sich nie mehr aufklären, dass der Roman eines Schicksallosen eigentlich nichts anderes als eine literarische Parodie ist.“
zum Beitrag11.03.2020 , 21:43 Uhr
Orbán und Kertész sind beide desillusionierte Liberale, die begriffen haben, dass die Mehrheit keine Freiheit will. Orbáns Ziel ist eine illiberale »christliche Demokratie«. Entsprechend bemerkt Kertész 2002 im Tagebuch: »Die Masse braucht eine Werteordnung, sonst schafft sie sich ihre eigenen Werte, und dann wehe dieser Welt.« Dass seine Bücher nicht mehr in der Schule gelesen werden sollen, ist insofern zu verschmerzen, als sie längst nicht jedermann versteht. Sie sind nämlich in einer »atonalen« Sprache verfasst. Im Nachwende-Ungarn hatte Kertész nicht nur Probleme mit den neuen Antisemiten, sondern auch mit dem institutionalisierten Liberalismus. 1990 trat er wegen antisemitischer Vorfälle aus dem Schriftstellerverband aus, und 1997 aufgrund weltanschaulicher Differenzen aus der Redaktion der liberalen Zeitschrift HOLMI. Seine späten Texte stoßen mittlerweile sogar im Westen auf Ablehnung. Auf einer Diskussion im Wissenschaftskolleg zu Berlin vom 30.10.2019 (Video auf der Website des Kollegs) wurde moniert, dass seine Tagebücher »skandalöse Einträge« zum Islam und zur Demokratie enthalten. Földényi, der daran teilnahm, bezeichnete ferner Kertész’ Roman Liquidation als »kitschiges Buch«. In dem Buch wirbt Kertész für die Auflösung der totalitären Mentalität durch eine subkulturelle Liebe. Wer das nicht sexy findet, muss schon sehr melancholisch sein. Dass Kertész die Gunst der Intellektuellen verloren hat, wurde auch deutlich, als am 9.11.2019 sein 90. Geburtstag mit dem 30. Jahrestag der Maueröffnung und dem Gedenken an die Pogromnacht von 1938 zusammenfiel. Es wäre zu erwarten gewesen, dass man an ihn erinnert und würdigt, was er über Europa und den Totalitarismus geschrieben hat. Im hiesigen Feuilleton erschien indessen – nichts. Wenn ich nun aber Klagen darüber lese, dass Kertész aus dem ungarischen Lehrplan verschwinden soll, muss ich immer an ein Lied von Jan Delay denken (das Kertész sicher gefallen hätte): »Ich möchte nicht, dass ihr meine Lieder singt.«
zum Beitrag