Sternhagelvoll in schwarzen Löchern

Es werden Wahlen gewesen sein, und die Space Park-Eröffnung wäre beinah ein Erfolg geworden. Lesen Sie im vorauseilenden Jahresrückblick auf 2003, was alles passiert sein wird. Menschen kommen unter die Räder, andere wieder nicht ins Rathaus, und der Kanzler äußert sich zum Stadtstaatenproblem.

1. Januar Pastor Motschmann, der vor einem guten Jahr verschwunden war, bei den wichtigsten Messen aber von seinem Berliner Bruder gedoubelt wurde, wird nass und schier leblos an der Schlachte wiedergefunden. Nach Grog und ein, zwei von Silvester übriggebliebenen Kanonenschlägen, kommt er zu sich. „Wo waren Sie, was ist geschehen“, stürmen die Journalisten mit Fragen auf ihn ein. „Wo ich war, weiß ich nicht“, so der völlig verdatterte Pastor, „aber ich soll sagen, dass wir den Space Park nicht vor Oktober eröffnen sollen“. In welchem Jahr, fragt taz-Journalist Klaus Wolschner, aber da nickt Motschmann auch schon wieder ein. Wenig später verlautet auf einer eilends einberufenen Senatspressekonferenz, man werde sich dem Wunsch von oben beugen und im Oktober eröffnen – 2003.

9. Januar Dieter Bohlen gibt den Startschuss zum Sechs-Tage-Rennen. Dann grölt er: „So Mädels, jetzt geht’s rund“, und verschwindet in der kreischenden Menge. Am nächsten Tag sendet buten un binnen ein AmateurVideo, das Bohlen in kompromittierender Bewegung hinter der Stute „Estefania“ zeigt. „Wir gehen davon aus, dass das Material authentisch ist“, kommentiert ein zugeschalteter BKA-Experte. „Bohlen besorgt’s Bremen“, titelt die Bild. Bohlen selbst wird mit den vieldeutigen Worten „Das wird mal ein echter Renner“ zitiert. Bei der Hanseatischen Veranstaltungsgesellschaft ist man nicht unzufrieden: „Das ist auch eine Art Werbung für Bremen“, so Sprecher Torsten Haar. Der Gegenwert der ungewollten Bohlen-Kampagne entspricht nach Berechnungen des zum Bremer Wirtschaftsweisen ernannten Ex-Staatsrates Frank Haller einer halben Milliarde Euro.

12. Februar Bremerhavens Oberbürgermeister Jörg Schulz lädt die Presse zur Eröffnung der 374-sten Bremerhavener Auffanggesellschaft für die Mitarbeiter der SSW-Werft. „Wir haben damit zum ersten Mal in der Geschichte Bremerhavens mehr Auffanggesellschaften als richtige Firmen“, verkündet er und lacht dabei Tränen. Mit verschwommenem Blick zückt er die Schere, schneidet aber nicht nur das rot-weiße Band durch, sondern kastriert bedauerlicherweise auch den ehemaligen SSW-Betriebsrat. „Oh mein Gott, was haben Sie getan“, ruft der mit glockenheller Stimme. Die Bremerhaven-Abteilung von Marketing-Obermufti Klaus Sondergeld schaltet überall Anzeigen: „Bremerhaven – Stadt der Kastraten“

8. März Henning Scherf tritt bei einer SPD-Wahlkampfveranstaltung mit einem lilafarbenen Kopftuch auf. Spekulationen, die SPD-Werbeagentur habe damit die alte Tante SPD symbolisieren wollen, tritt der Präsident des Senats entgegen: „Wir müssen mit unseren muslimischen Schwestern solidarisch sein.“ CDU-Staatsrätin Elisabeth Motschmann kontert, es gelte jetzt, die Werte des Abendlandes zu verteidigen. Da sei ein Kopftuch auf der Senatsbank nicht tragbar. In den SPD-Hochburgen stürzen Scherfs Sympathiewerte steil ab.

9. März Auch die Deutsch-Israelische Gesellschaft meldet Bedenken gegen Scherfs Auftreten an. Hermann Kuhn (Grüne) will den weiteren Wahlkampf mit einer Kippa bestreiten, das Parteibüro kann aber lediglich eine Badekappe organisieren.

20. April Es kommt zum Eklat, als Jens Eckhoff sich weigert, beim Ostergottesdienst in der Martinikirche die Pudelmütze abzusetzen. Pastor Motschmann stürmt von der Kanzel, jagt Eckhoff siebenmal um den Altar, bis Eckhoff aus der Kirche galoppiert. Motschmann lässt 21-mal „Lobe den Herrn“ läuten. Bei der taz begehen vier Redakteure daraufhin Selbstmord.

25. April Einen Monat vor der Bürgerschaftswahl beschließt der Senat die Erweiterung des Technologieparks und die Bebauung des Hollerlands. Die Grünen protestieren mit zahlreichen Pressemitteilungen und richten eine Sonderseite im Internet ein. Auf einer Fraktionssitzung macht sich aber Erleichterung breit: „Wenigstens müssen wir das jetzt nicht beschließen, wenn wird die Wahlen gewinnen. Sein muss es ja doch“, wird die Strategin Karoline Linnert zitiert. Die erste Erschließungsstraße soll nach dem nimmermüden Kämpfer gegen das Hollerland, Frank Haller, benannt werden. Die Deputierten der CDU sind von der „Hallerland-Trasse“ begeistert, SPD-Fraktionschef Böhrnsen gibt schon mal eine Pressemeldung mit dem Titel „SPD für Neujustierung des Hollerlands“ raus. Dann aber fällt den Deputierten ein, dass Straßen nur nach Toten benannt werden dürfen. Auch die Grünen sind jetzt für den Haller-Vorschlag. Bei einem mysteriösen Unfall auf der neuen Galopp-Trainingsbahn gerät Haller wenig später unter die Hufen und erliegt seinen Verletzungen.

25. Mai Bei der Bürgerschaftswahl kassiert die SPD eine historische Niederlage: Mit 38 Prozent liegt sie erstmals einen Prozentpunkt hinter der CDU. Der Landesvorsitzende Bernd Neumann schiebt den wie ein Honigkuchenpferd grinsenden Perschau aus dem Fernsehbild und deklariert: „Präsident des Senats werde ich!“ Henning Scherf zieht gedankenverloren das über die Monate verblichene Kopftuch ab. In ersten Interviews deutet der gescheiterte Regierungschef an, mit dem Posten des Senators für religiöse Angelegenheiten unter Neumann zufrieden zu sein, was Neumann jedoch brüsk ablehnt. Jemand flößt Scherf mehrere Gläser eiskalten Leitungswassers ein. Er, schnaubt, dass die Wangen flattern, und stößt ein paar unverständliche Grunzlaute aus. Als er sich gefasst hat, fragt er, als sei nichts gewesen: „Wie viel haben eigentlich die Grünen geholt?“ „13,5 Prozent! Rekordergebnis!“, frohlockt es aus der hintersten Reihe. Man sieht einen strahlenden Joachim Schuster, der den Wiedereinzug in die Bürgerschaft verfehlt hat. Er läuft auf Scherf zu und fällt ihm um den Bauch. „Schaff’ mir die Linnert her“, dröhnt Scherf durch das Foyer der Bürgerschaft. Schuster findet sie schließlich an der Rathaustür ruckelnd und brüllend: „Ich will hier rein“. „Karo“, sagt Schuster beschwichtigend, „hier kommt der Henning rein, aber wenn du brav bist, darfst du ins Siemenshochhaus.“

26. Mai Nach einer Reportage über eine Krankengymnastikgruppe in Ganderkesee sendet buten un binnen ein Amateurvideo ohne Ton, das den Kanzler auf seinem Berliner Klo zeigt. Im Zoom sieht man deutlich, wie er sich mit dem Brief, in dem Bremen der Ausgleich aller Steuerausfälle versprochen wird, den Allerwertesten wischt. Ein staatlich geprüfter Lippenleser enthüllt die Kanzler-Worte: „Staaaadtschtaaatn sinn füan Aaaasch“.

27. Mai Die Rot-Grünen Koalitionsverhandlungen beginnen mit einem Paukenschlag: „Wir holen Claudia Roth nach Bremen“, raunt Scherf Axel Schuller auf der Rathaustreppe zu. „Roth-Grün in Bremen“ titelt der Weser-Report anderntags exklusiv. „Das ist gemein. Die Zeile hab’ ich vorgesagt“, beklagt sich der taz-Praktikant in der Morgenkonferenz, wird aber mitleidlos gerüffelt, weil er die brisante Personalie verschusselt hat. Die taz will das Versäumnis durch ein Interview mit der designierten Senatorin für Städtepartnerschaften und Tierschutz wettmachen, aber die Roth lehnt ab. Niemand habe sich für den taz-Titel „Gurke des Jahres“ mit ihr im Bayreuth-Kostüm entschuldigt. Sie habe damals auch ihr Abo gekündigt, und sie gedenke nicht, es zu erneuern. Bei der taz herrscht Heulen und Zähne-Klappern: „Schon wieder keine Senatsvorlagen, wenn die Schnalle uns schneidet.“

29. Mai Ein Amateur-Video taucht bei buten un binnen auf. Es zeigt die Koalitionsverhandlungen, bei denen es Scherf wieder einmal gelingt, die Runde in einen Kindergarten zu verwandeln. „Ich muss mal Pipi“, hört man Helga Trüpel sagen, Manfred Schramm will ein Eis, Klaus Möhle sagt: „Ich geh aba nich zum Frisööööör.“ Der Grüne Matthias Güldner springt mehrfach und ausgelassen über seinen Schatten, reibt sich links und rechts die Nase, reckt den Finger in die Höhe und sagt: „Ich weiß was, ich weiß was. Der Kurt Zech, der alte Realo, soll Bausenator werden.“ Regierungssprecher Klaus Schloesser macht ein ganz ausgebufftes Gesicht. Alle anderen sind begeistert. Als Schloesser einen Personalvorschlag zum Pressesprecher von Zech machen will, blendet „buten un binnen“-Redakteur Andreas Hötzel aus. Ein ins Studio geladener Experte soll das merkwürdige Verhalten der Grünen erklären. Er spricht von einem Marginalisierungstrauma der Bremer Grünen. Eine Gruppentherapie könnte Abhilfe schaffen.

1. Juni Mit Inbrunst begleitet der einst als Senator gehandelte Ortsamtsleiter Robert Bücking die Riesenbaustelle im Viertel. Und er wird belohnt: Auf der Sielwallkreuzung wird ein unglaublicher Fund gemacht. Die Bauarbeiter stoßen auf einen versteinerten Ortsamtleiter. Sein Alter wird auf circa 1.500 Jahre geschätzt. Als Grabbeigabe sitzen elf gebückte Menschen um ihn herum – die wahrscheinlich ersten Beiräte. Bremen geht als die Wiege der Pufferdemokratie (Senat, dann lange nichts, dann Parlament, dann lange nichts, dann Ortsamtsleiter mit Beiräten und Volk) in die Geschichtsbücher ein. Denkmalschützer Skalecki kann sich endlich einmal durchsetzen. Eine Glasplatte auf der Sielwallkreuzung legt für alle Zeiten den Blick auf den vermutlich ersten Amtsinhaber frei. Am Eck machen zahlreiche Souvenir-Läden auf, die mit kleinen steinernen Ortsamtsleitern und geschmackloserweise auch mit künstlich gealterten Spritzen und Bierflaschen ihr Geld verdienen.

28. Juli Weser Kurier und Bremer Nachrichten haben wegen der dramatischen Anzeigeneinbrüche alle Lokalredakteure über 35 zwangsweise in Altersteilzeit geschickt. Um die Seiten zu füllen, schreibt Verleger Herbert C. Ordemann jetzt täglich eine ganzseitige Kolumne an die Leser, die sich im Lauf der Zeit als die beliebteste Rubrik erweisen soll. Außerdem werden den in der Bürgerschaft vertretenen Parteien Plätze eingeräumt, die sie nach Gutdünken füllen können. Taz-Redakteur Kai Schöneberg geht als Praktikant verkleidet zum Weser-Kurier. Er holt die Senatsvorlagen aus dem Briefkasten und schleust sie an die taz weiter. Weser-Kurier Lokalchef Volker Weise merkt nichts.

11. September Nach fieberhaften Vorbereitungen ist es endlich soweit. Der Space Park soll eröffnet werden. Bei einer Vorab-Besichtigung fallen die Staatsräte allerdings vom Glauben ab. Es stehen nur Fassaden, lediglich zwei Supermärkte sind ausgebaut. Marketing-Chef Klaus Sondergeld hat wieder mal die rettende Idee: „Wir verteilen bei der Eröffnung Drei-D-Brillen, dann merkt keiner, dass das hier quasi ein potjemkinsches Dorf ist.“ Alle die wissen, was ein potjemkinsches Dorf ist, klopfen ihm auf die Schulter. Die Sache ist beschlossen.

12. September Bürgermeister Henning Scherf ordnet für die wenigen verbleibenden Wochen ein Alle-Mann-Manöver an: Die für den 3. Oktober geplante Space Park-Eröffnung müsse ein Erfolg für die ganze Stadt werden, sagt er. Und alle sollen mitmachen. Gesucht werden die elf besten Marketingideen, mit denen Bremen sich ganz in den Dienst der Space Park-Eröffnung stellt. Schon nach wenigen Tagen werden die ersten Vorschläge veröffentlicht. Ein Zusammenschluss der Kneipen im „Viertel“ schlägt den Slogan „Sternhagelvoll“ vor. Ein anonym eingereichter Vorschlag „Bremen – Stadt der Schwarzen Löcher“ wird per DNA-Analyse dem Sprecher des Wirtschaftsressort, Jacobsen, zugeordnet. Er verliert seinen Job.

3. Oktober Mit viel Prominenz aus dem ganzen Land findet die Eröffnung des Space Parks statt. Vom Großmarkt her weht ein sehr strenger Geruch – weil die Stromrechnungen im Space Park nicht bezahlt wurden, werden die Leitungen vom Frischezentrum angezapft, dort faulen jetzt die Vorräte. Die Ehrengäste haben alle ihre Brillen auf und sind begeistert. Bloß Uli Wickert, der guckt natürlich über den Rand seiner Brille und wird der Täuschung gewahr. „Der Blöde ist der getäuschte Ehrliche oder so ähnlich“, leitet er später den „tagesschau“-Bericht über den Space Park ein. Bremen wird zum Gespött der Republik. Henning Scherf bekommt einen Heulkrampf, Ex-Senator Hattig sagt in Interviews, die Grünen hätten das Projekt totgeredet.

10. November „Buten un binnen“ sendet ein Amateurvideo, auf dem im Halbdunkel zu erkennen ist, wie eine Gruppe düsterer Gestalten im Gänsemarsch von der Gröpelinger Fatih-Moschee aus über die Straße in den Space Park schleicht. Im nächsten Bild stehen die Gestalten am Flugsimulator Schlange. Ein Sicherheitsangestellter sagt: „Die sind jeden Abend hier.“ Gast im Studio ist der Bremer Verfassungsschutz-Präsident Walter Wilhelm: „Das Material könnte authentisch sein“, sagt er. Innensenator Hermann Kleen (SPD) warnt vor „Vorverurteilungen“. Bürgermeister Henning Scherf dagegen begrüßt das Technikinteresse der jungen Migranten. „Wenn wir das nicht fördern, wird es nie Integration geben.“

6. Dezember Der Umbau der Stadthalle beginnt. Als ein Kran die erste Dachplatte anhebt, stürzt das ganze Gebäude mit einem gewaltigen Krach in sich zusammen. Wie Dominosteine fallen die angrenzenden Messehallen ebenfalls um. Es grenzt an ein Wunder, dass niemand verletzt wird. Am Abend bringt „buten un binnen“ eine Live-Schaltung zum greisen Stadthallen-Erbauer Roland Rainer. Der 92-Jährige kichert unaufhörlich. Ob es ein Geheimnis bei der Konstruktion des Bauwerks gebe, will Moderatorin Nickelsen wissen. Nichts als ein boshaftes „Hihihi“ ist die Antwort. Den Statiker kann man nicht fragen: Vor einigen Wochen ist er aus einem Altersheim in Bad Ischl spurlos verschwunden. Elke Heyduck, Jan Kahlcke