: Wegdrücken reicht nicht
JUSTIZ Sie hatten ein Kind. Er wohnte bei ihr – und vergewaltigte sie. Sie hat ihn angezeigt. Doch die Ermittlungen wurden eingestellt. Warum das Strafrecht viele Vergewaltigungen nicht erkennt
■ Konvention: Jede nicht einvernehmliche sexuelle Handlung ist strafbar. Das sieht die Istanbul-Konvention vor, ein Übereinkommen des Europarats zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen. Im August 2014 trat sie in Kraft.
■ Paragraf: In Deutschland ist sexuelle Nötigung oder Vergewaltigung nach Paragraf 177 des Strafgesetzbuches nur strafbar, wenn der Täter Gewalt anwendet, sie androht oder eine schutzlose Lage des Opfers ausnutzt. Ein Opfer etwa, das nicht schreit, obwohl es so Nachbarn alarmieren könnte, gilt damit nicht als schutzlos. Und wer nur annimmt, dass sie oder er bei Widerstand verprügelt wird, gilt nicht als explizit bedroht.
■ Reform: Die Istanbul-Konvention müsste nun auch in Deutschland ratifiziert werden. Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) will die Lücken, die das bisherige Gesetz bietet, schließen. Aus dem Bundesministerium heißt es auf Anfrage der taz, dass in den kommenden Wochen ein Referentenentwurf vorliegen werde.
■ USA: Dass der allerdings so weit geht wie etwa das „Yes means yes“-Gesetz in Kalifornien, ist nicht zu erwarten. Studierende an öffentlichen Universitäten müssen demnach vor sexuellen Handlungen ausdrücklich ihr Einverständnis geben.
VON HEIDE OESTREICH (TEXT) UND ELÉONORE ROEDEL (ILLUSTRATION)
Sie war vielleicht naiv. Sie hatte in ihrem christlichen Elternhaus gelernt, dass man Menschen verzeihen kann, ihnen eine neue Chance geben, es noch einmal versuchen. Sie hatte auch gedacht, sie könne das Ganze distanziert betrachten, irgendwie professionell. Und irgendwo war da auch der Traum: eine kleine Familie. Ein Kind. Am Ende musste sie darum kämpfen, dass der deutsche Rechtsstaat sich ihrer annimmt. Nur wollte der nicht.
Anne Siebert ist vergewaltigt worden. Mehrmals. Vom Vater ihres Kindes. Sie hat ihn angezeigt. Aber es folgte nichts daraus. Die Aussage zu unklar, sie selbst zu konfus, hat sie sich genügend gewehrt?
Die deutschen Gerichte urteilen da streng. Längst fordert eine Europaratskonvention, dass ein Nein ausreichen muss, um eine Vergewaltigung zu klassifizieren, aber in Deutschland wurde sie noch nicht umgesetzt. Das Justizministerium will nun den Vergewaltigungsparagrafen reformieren. Denn wegen der aktuellen Rechtslage fühlen sich viele alleingelassen, Anne Siebert etwa. Sie will ihre Geschichte erzählen, aber nicht unter ihrem richtigen Namen. Sie hat Angst, dass sie sonst für immer an ihr haften bleibt.
Siebert lernt Musa in Kairo kennen, wo sie als Lehramtsstudentin für einige Wochen arbeitet. Ein soziales und künstlerisches Projekt in einem konservativen Viertel, die Anwohner sollen über ihre Situation nachdenken. Sie fragt ihn nach dem Weg, er begleitet sie ein Stück. Ein kleiner, zarter junger Mann, der verschmitzt lächelt. Sie solle ihm eine SMS schreiben, wenn sie gut angekommen sei.
Er hat jetzt ihre Telefonnummer. In den Tagen danach weicht er nicht mehr von ihrer Seite. Er ist etwas aufdringlich, findet sie, nimmt einfach ihre Hand, aber er ist auch charmant – und sie kennt ja in Kairo sonst keinen.
Er kocht für sie Kaffee, zeigt Bilder von seiner Familie, sie solle seine Mutter kennenlernen: eine beeindruckende geschiedene Frau, die sie herzlich aufnimmt. Sie hat die fünf Kinder in dem Haus großgezogen, das sie geerbt hat. Sie leitet einen Handwerksbetrieb, auch den hat sie geerbt, man fühlt sich gut bei ihr.
Musa erzählt von seinem Leben, immer sei er angeeckt, man habe ihn mit Beruhigungstabletten ruhiggestellt. Die Sonderschule hat er abgebrochen, hat als Kellner gearbeitet. Er nimmt Drogen, ja. Und er sagt es nicht, er ist Muslim, aber sie riecht es. Er trinkt auch ganz ordentlich.
Anne Siebert ist interessiert. Hier ist ein Außenseiter, und mit Außenseitern solidarisiert sie sich gern. Ihr letztes Projekt hatte sie mit Gefangenen in einem Jugendgefängnis gemacht, komplizierte Familiengeschichten sind ihr vertraut und wecken bei ihr eher Sympathie, wo andere vielleicht schnell misstrauisch werden.
Sie spazieren durch Kairo, mit Musa lernt sie die Stadt kennen und muss sich, wo man sonst als Frau alle zwei Meter belästigt werden kann, nicht ärgern oder fürchten.
„Er hat mich bequatscht“, sagt sie heute. Sie sitzt in ihrer Küche, ein unsanierter Altbau in einer großen Stadt in Deutschland. Es sieht aus wie in einer WG der 80er Jahre: zusammengewürfelte Möbel, ein bisschen düster, aber sympathisch. Siebert ist groß und schlank, eine hübsche Frau, 31 Jahre alt, die langen blonden Haare zum Zopf gebunden. Sie hat etwas Künstlerisches, Freies an sich in ihrer verwaschenen Jeans und dem unprätentiösen T-Shirt. Sie will das alles jetzt erzählen, weil sie glaubt, dass sie nicht allein ist.
Musa startet seine Charmeoffensive, so nennt Siebert das: Sie soll ihn besuchen, mit ihm auf eine Hochzeit gehen, die ganze Familie ist sofort begeistert von der deutschen Freundin. Es sind politisch aufregende Zeiten: Musas Bruder ist für die Muslimbrüder, Musa für die Armee. Hitziger Streit. Anne Siebert ist bereit für ein Abenteuer.
Als sie dann allerdings auf seinem Bett liegen, wird Musa so grob und fordernd, dass sie sich abgestoßen fühlt: Sie will die Sache abbrechen. Doch er lässt sie nicht. Er hält sie fest, sie rangeln, er penetriert sie. Bloß nicht laut schreien, denkt sie. Es ist ihr peinlich vor der Familie.
Danach sitzt sie benommen mit der Mutter und seinen Geschwistern im Wohnzimmer, es gibt Tee, sie versucht sich zu sortieren. Was war das? Eine Vergewaltigung? Ein kulturelles Missverständnis?
„Ich war verstört“, sagt sie heute. Sie habe versucht, darüberzustehen und alles zu analysieren. Ist sie mit schuld? Er hat ihr schon erzählt, wie süchtig er nach Sex ist. Schon als Kind habe er immer Sex gewollt. Er bekam Beruhigungstabletten. Sie hätte ihn vielleicht gar nicht in eine solche Situation bringen dürfen, überlegt sie.
Sie will den Kontakt abbrechen und besorgt sich eine neue Telefonnummer. In ihrem Haus sagt sie dem Concierge und den Nachbarn Bescheid, dem Leiter ihres Stipendiums: Sie sollen ihn wegschicken, wenn er kommt. Sie sieht, wie der Wachmann ihn verjagt. Die Nachbarn reden: Die Deutsche ist eine Hure. „Was wird aus meinem Nachbarschaftsprojekt?“, habe sie gedacht, erzählt Siebert: „Niemand will mit der Hure ein Projekt machen.“
Sie stellt sich vor, sie sei eine Anthropologin, die gerade eine Erfahrung gemacht hat, die es nun zu verstehen gilt. Ein paar Tage später nimmt sie Kontakt mit ihm auf. Sie reden. Er beteuert, er habe ihr nicht wehtun wollen, es tue ihm leid. Sie solle ihm doch bitte helfen.
Sie will ja helfen.
Es sei schwer zu verstehen, sie wisse das, sagt Anne Siebert: Aber eine Weile lang haben die beiden dann eine Art Verhältnis. Freunde, die zu Besuch sind, lernen ihn kennen und sagen, sympathisch, interessant, aber irgendwie sieht er aus wie ein Junkie. Die Ringe unter den Augen, das Ausgezehrte. Ägypter behandeln ihn schlecht, die Drogen machen ihn zum Ausgeschlossenen. Das findet sie ungerecht. Er will sich doch verändern, beteuert er. Sie verbündet sich mit ihm. Und er hängt sich an sie, seine blonde Retterin.
Dann wird sie schwanger. Es hätte nichts passieren können, hat sie gedacht, kurz nach der Periode. Aber es passiert.
Musas Lösung ist klar: abtreiben oder heiraten. Aber abtreiben kommt für Anne Siebert nicht infrage. Heiraten auch nicht, nicht diesen komplizierten Mann, der sie so sehr anzieht, wie er sie abstößt. Sie fliegt zurück nach Deutschland. Sein Part in ihrer Geschichte hätte damit enden können.
Anne Siebert tut jetzt aber etwas, das die Polizei nicht verstehen wird und die Staatsanwaltschaft auch nicht. Natürlich, sagt sie, so habe sie damals überlegt, könnten sie nicht zusammenwohnen. Aber wenn er Verantwortung übernähme, würde er sich vielleicht verändern. Das Kind hätte einen Vater, das ist doch so wichtig. Man kann ja heute auch getrennt noch als Eltern für ein Kind da sein. Sex will sie nicht mehr mit ihm haben, keine Partnerschaft. Aber einen Vater für das Kind?
Schließlich war er wegen ihres Abschieds so niedergeschlagen gewesen, hatte ihr unbedingt folgen wollen. Könnte das nicht auch eine Chance für ihn sein? Er will doch ein anderes Leben.
Irgendwie muss sie gedacht haben, dass sie die Ambivalenz, die sie ihm gegenüber spürt, in ein Arrangement gießen kann. Er kann eine Rolle spielen, aber eine genau definierte. Aron wird geboren. Sie holt Musa nach Deutschland, erklärt ihre Bedingungen. Musa sagt Ja, das machen wir. Aber hat er verstanden, was sie will? Will er es verstehen?
Er wohnt erst mal bei ihr, wo auch sonst. Und er erweist sich als guter Hausmann: Er trägt die Einkäufe, faltet die Wäsche, hält die Wohnung sauber. Die Freunde kommen zu Besuch, besichtigen Kind und Mann und haben einen guten Eindruck. Aber immer öfter geht er raus und kommt mit roten Augen und sichtlich betrunken wieder zurück. Und er hat sich etwas mitgebracht. Viagra. Das sei gut für ihn: morgens, mittags, abends. Zum Essen. Anne ist alarmiert. Aber was soll sie tun? Sie diskutieren, er wird heftig. Es sei sein Körper. Und er brauche Sex.
Er will wieder mit ihr schlafen. Er verfolgt sie durch die Wohnung. Sie wehrt sich, es gibt Streit, er haut ab, kommt betrunken wieder. Er bedrängt sie, schiebt sie in eine Ecke, will sie penetrieren, sie schreit: „Stop it, stop it, you hurt me.“ Sie versucht sich freizukämpfen, mal gelingt es, mal nicht. Mal gelingt es ihr, ihn wieder aus sich herauszudrücken. Mal hält er sie so fest, dass es nicht geht. Auf dem Bett kniet er sich von hinten auf ihre Kniekehlen, sie kann nichts mehr machen. Sie schreit. Sie strampelt. Sie beißt. „Stop, no, please not!“ Er würgt sie. Sie sei doch seine Frau, sie müsse ihm Sex geben, erklärt er. Sie sei gewalttätig, weil sie sich ihm vorenthalte.
„I could never hurt you“, sagt er, während er sie festhält und vergewaltigt. Er redet wirr: „Du willst ja geschlagen werden, du bettelst darum! Ich will dich nicht schlagen!“
Sie hat das alles aufgeschrieben, später, als sie merkte, dass die Polizei ihr nicht glaubt. Eng bedruckte Seiten. Was da nicht steht, ist, warum sie ihn immer noch bei sich duldete. Vielleicht ist da der Traum: Vater, Mutter, Kind. Wenn er bloß verstehen würde, was er da anrichtet.
Er aber redet nur vom Heiraten. Von ihrer Pflicht ihm gegenüber. Sie soll ihm Sex geben, sonst muss er Drogen nehmen, und sie ist schuld. Alles andere rauscht an ihm vorbei. Und es dauert erstaunlich lange, bis Anne Siebert das realisiert.
Manchmal hat sie mit ihm Sex, damit er nicht trinkt und keine Drogen nimmt. Auch das wird die Polizei später nicht verstehen können.
Sie hat Schwierigkeiten beim Stillen, Aron trinkt nicht genug. Ganz in Ruhe legt sie sich deshalb mit ihm aufs Bett. Aber Musa kommt herein, legt sich hinter sie und will Sex. Er schiebt ihr Kleid hoch, will sie penetrieren, versucht seine Viagra-Erektion in sie zu rammen. Vorn das Kind, hinten der Mann – sie kann sich schlecht bewegen. Sie wird laut: „Stop it, stop it, you hurt me.“ Sie versucht ihn wegzudrücken, er macht weiter, erst als das Kind anfängt zu schreien, lässt er ab.
Immer noch denkt sie manchmal, dass die Situation sich verbessern könnte, dass Väter ja auch ein Recht auf ihre Kinder haben und dass ihn diese Beziehung verändern könnte.
Es geht ihr vor allem um das Kind. „Das Gefühl war, dass das Kind das Zentrum ist, ich bin nur die Hülle. Und ich muss das Kind schützen, um jeden Preis.“ Als er das Baby angreifen will, es schüttelt, damit es aufhört zu schreien, ist Schluss. Sie wirft ihn raus. Zwei Wochen sind da vergangen.
Er kommt immer wieder, klingelt Sturm, randaliert vor dem Haus, drängt sich in die Wohnung. Er greift nach dem Ordner mit der Geburtsurkunde. Will er das Kind mit nach Kairo nehmen? Nun bekommt sie richtig Angst. „Jetzt brauche ich Hilfe“, denkt sie. Sie zeigt die Vergewaltigungen an.
Die Beamtin will alles von vorn erzählt bekommen. Also fängt Anne Siebert in Kairo an. Aber eigentlich wolle sie die Taten in Deutschland anzeigen, meint sie. Also erst mal Kairo. Die Beamtin fragt nach. Welche Kleidung trug sie, was trug er, wann hat er seine Hose heruntergezogen, was war denn genau die Gewalt an der Vergewaltigung?
Siebert überlegt. Am meisten geschmerzt hat das Eindringen, also sagt sie: „Die Eindringungsgewalt.“ Falsche Antwort, wie sie später merkt. Das weiß sie aber da noch nicht. Und auch nicht, dass sie eine Zeugenbegleitung hätte mitnehmen können, die ihr hilft.
Sie beschreibt aber auch Situationen, in denen sie sich wirklich gewehrt hat. In denen Musa sie gegen die Wand drückte, festhielt, quetschte, ihre Beine immer wieder mit Gewalt auseinanderdrückte.
Dazwischen, sie erzählt das ehrlich, gab es einvernehmlichen Sex, den sie zulässt.
„Ich hatte das Gefühl, die Frau glaubt mir nicht“, sagt sie heute.
Besonders, dass sie auch eine Beziehung mit dem Vergewaltiger hatte, scheint der Kommissarin bedeutsam. „Das Verhalten der Geschädigten dem Beschuldigten gegenüber ist in weiten Teilen nur schwer bzw gar nicht nachvollziehbar und läßt auf eine gewisse Gleichgültigkeit oder Naivität schließen“, schreibt sie in ihren Vermerk.
„Das läuft hier schief“, denkt Siebert, aber sie ist inzwischen völlig zermürbt. „Bei der nächsten Vernehmung erzähle ich dann ausführlich von den Vergewaltigungen in Deutschland“, denkt sie.
Doch vernommen wird nur noch Musa. Sie wollte von ihm geschlagen werden, gibt er an. Und er habe nie vergewaltigt. Sie hätte in Kairo ja schreien können oder zur Botschaft gehen. Manche Aussagen wirken wirr, wenn man sie im Protokoll nachliest. Mal sagt er, er wolle seinen Sohn mit nach Ägypten nehmen, mal sagt er, er wolle es nicht.
Keine weitere Vernehmung, nichts. Stattdessen kommt ein Brief von der Staatsanwaltschaft: Verfahren eingestellt. Damit eine Vergewaltigung vorliege, müsse der Beschuldigte „Gewalt“ anwenden, und diese muss „als Mittel zur Überwindung des Widerstandes des Opfers dienen“. Die „bloße Vornahme einer Handlung gegen den Willen einer anderen Person“ sei „kein Erzwingen mit Gewalt“.
Außerdem habe Musa ihren Willen nicht eindeutig erkennen können. Schließlich habe sie mit ihm gefeiert und sich beim ersten Mal freiwillig mit ihm ins Bett gelegt. Sie habe ihn nach Deutschland geholt. „Der Beschuldigte muss daher – auch unter Berücksichtigung seines Kulturkreises – davon ausgehen, dass Sie seine sexuellen Vorlieben dulden und damit einverstanden waren. Soweit der Beschuldigte möglicherweise den Beischlaf nicht so zärtlich vollzogen hat, wie Sie es sich wünschten, begründet dieses keine Strafbarkeit seines Verhaltens.“
Siebert schreibt eine Beschwerde. Lang und ausführlich schildert sie die Vergewaltigungsszenen, die Gewalt, die Musa anwandte, wie sie sich gewehrt hat. Ein weiterer Brief: Beschwerde abgelehnt. Die Generalstaatsanwaltschaft findet, das Verfahren sei „aus zutreffenden Gründen eingestellt“ worden. Auch die Beschwerdestelle des LKA kann keine Ermittlungsfehler oder eine Verharmlosung von Vergewaltigungstaten erkennen. Die Kommissarin sei eine sehr geschätzte Kollegin, die sich in einem Netzwerk gegen sexualisierte Gewalt engagiere.
Theda Giencke ist spezialisiert auf Vergewaltigungsfälle. Anne Siebert hat sie bei ihrer Beschwerde eingeschaltet. „Juristisch ein schwieriger Fall“, sagt sie. In ihrer ersten Vernehmung habe Siebert die Gewalthandlungen nicht genau genug beschrieben. „Sie hat beschrieben, wie sie sich gewehrt hat, aber nicht, was genau Musa getan hat. Und das Festhalten und In-die-Ecke-Drängen? „Festhalten wird oft nicht als Gewalt gewertet“, sagt Giencke. Dass sie immer wieder deutlich gemacht hat, dass er ihr wehtue, dass er aufhören solle – unerheblich.
Dass sie stillen musste, war das nicht eine „schutzlose Lage“, deren Ausnutzen ebenfalls juristisches Merkmal einer Vergewaltigung ist? Sie hätte ja aufstehen können und gehen, erklärt die Kommissarin – keine Vergewaltigung. Und auch „Eindringungsgewalt“ ist im strafrechtlichen Sinn keine Gewalt.
Nur auszudrücken, dass man den Sex nicht will, nur winden, nur wegdrücken reichen für das deutsche Strafrecht nicht aus. „Ich wäre sehr froh, wenn auch im deutschen Strafrecht statuiert würde, dass nicht einverständliche sexuelle Handlungen strafbar sind“, sagt Giencke. „Wäre das so, dann wäre der Fall anders gelaufen.“
International wird genau auf diese Verschärfung hingearbeitet. Die Istanbul-Konvention des Europarats sieht die Formulierung vor. Deutschland hat die Konvention zwar unterzeichnet, aber bisher nicht umgesetzt. Das Justizministerium hat nach viel Druck von Nichtregierungsorganisationen eingelenkt: Es will den Paragrafen verschärfen, Genaueres soll in den nächsten Wochen bekannt werden.
Die Anwältin meint: Anne Siebert hätte genaue Daten und Uhrzeiten nennen müssen, konkrete Handlungen, die an einem konkreten Tag passiert sind. Tatsächlich hat sie Zeiträume genannt, genauer erinnerte sie sich nicht. Es war zu viel. Aber kann das nicht passieren, wenn man traumatisiert ist?
Die Frist, dem Generalstaatsanwalt zu widersprechen, ist zwar abgelaufen, aber wenn sie es gut begründet, könnte sie eine „Wiedereinsetzung in die Frist“ beantragen. Sie könnte argumentieren, dass sie traumatisiert war, nun aber dank einer Therapie klarer sehe und zu einer umfassenden Aussage fähig sei.
Anne Siebert winkt ab. Musa ist zurück in Ägypten. Sie möchte nicht, dass das alles wieder hochkommt.
■ Heide Oestreich, 46, ist Redakteurin der taz
■ Eléonore Roedel, 43, ist freie Illustratorin