: Ein Ort zum Erwachsenwerden
YESTERDAY Die Eckkneipe in der Weggehmeile „Alte Bürger“ in Bremerhaven war meist letzte Stadion einer langen Nacht. Ganz früher lief über die basslastige Anlage angeblich avantgardistischer Wave. Hier tanzten alle existentialistisch und blickten zur Wand, die ein großes Fisch-Mandala von M.C. Escher zeigte
Es gibt Orte die mit dem Jungsein so eng verbunden sind wie der Kater am Morgen nach dem einen Wodka zu viel. Orte an denen man das unvermeidliche Ende einer Nacht noch einen Moment verzögern konnte, bis auch hier das erste Licht des Tages den Zauber verfliegen und das etwas versiffte Interior zum Vorschein kommen ließ.
Das Yesterday in der Schleusenstraße um die Ecke von Bremerhavens Kneipenmeile „Alte Bürger“ war so ein Ort und meistens unsere letzte Station nach einem langen Abend meist kontrollierten Trinkens. Denn wenn aus den anderen Kneipen die letzten Tresenleichen schon hinausgeschmissen waren, traf man hier noch immer auf Gleichgesinnte.
Kam man über den Eckeingang herein, gelangte man gleich an den tropfenförmigen Tresen. Links runter waren die Kickertische und die Männertoiletten. Rechts der Dancefloor. Dahinter ein Schlauch mit dem DJ-Pult und einer weiteren Bar. Ganz früher lief über die basslastige Anlage angeblich avantgardistischer Wave. Aber die große Zeit der „Alten Bürger“ war längst vorbei, als wir hier anfingen Ende der 90er-Jahre auszugehen. Nur wussten wir das damals zum Glück noch nicht.
Das Yesterday war vor allem ein Ort zum Erwachsenwerden, an dem schöne und begehrenswerte Mädchen den Kickertisch beherrschten. Stundenlang bis zur Erschöpfung spielten wir hier, um uns in ihrem Glanz zu sonnen. Im Yesterday hörte ich zum ersten Mal Clint Eastwood von den Gorillaz ohrenbetäubend laut. Ich kaufte mir hier meine erste Packung eigene Zigaretten. Roth-Händle, wie ich sie bei meinem Vater gesehen hatte. Schon nach einer halben Zigarettenlänge musste ich kotzen und nach Hause gehen.
Merkwürdigerweise tanzten hier alle immer vereinzelt-existentialistisch mit dem Gesicht zur Wand. Auf der war ein großes Fisch-Mandala von M.C. Escher nachgemalt, ein regelrechter Fisch-Strudel. Nach zu vielen preiswerten Gin-Tonics konnte man sich darin wohl ganz gut verlieren.
An Weihnachten war das Yesterday, das die Nostalgie ja schon im Namen trägt, der zentrale Treffpunkt für alle Heimgekommenen. Hier lief man sich, ob drinnen oder vor allem in der großen Meute Menschen vor der Tür, über den Weg. Das Licht der Straßenlaternen schien in diesen Nächten immer besonders hell, der Klang der zerbrechenden Bierflaschen auf der gepflasterten Straßen übertrieben schrill. Vor dem Yesterday konnte man sich in diesen Stunden – so gewaltig war die Energie – innerhalb von fünf Minuten verlieben, aneinander gewöhnen, auseinanderleben und wieder trennen.
Man konnte umherspringen, im Stakkato-haften Smalltalk zwischen dummen Witzen über Stüssy Hosen tragende Unsympathen, poststruktureller Theorie und bierseligen Erinnerungen an noch viel „früher“, immer nur „fast“ einen in die Fresse bekommen, um dann doch umarmt, ausgelacht oder einfach links liegen gelassen zu werden.
Während an Weihnachten nebenan im hübsch gemachten Pferdestall die „Jugend musiziert“-Kinder ihre Gesangsabende veranstalteten, spielten im Yesterday die genialen Universaldilettanten. Etwa eine der zahlreichen Bands von Adem Mahmutoglu. Einen Abend half ich bei einem Elektro-Song am Keybord aus, am Schlagzeug saß unser Freund Frank.
Ich musste beim Schreiben dieses Textes nach langer Zeit wieder an ihn denken. Er ist längst nicht mehr bei uns. Und er fehlt mir sehr.
Es ist halt so: Den Tempeln der Jugend darf man später im Leben nicht mehr zu nahe kommen. Sonst merkt man schnell, die so lebendigen und geliebten Erinnerungen sind längst nur noch Gespenster. RUBEN DONSBACH