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Archiv-Artikel

Über die physische Pflege hinaus

ZUWENDUNG Zum Jahresbeginn entstanden in Berlin 780 neue Stellen für Betreuungsassistenten in Pflegeheimen und Einrichtungen der Tagespflege. Sie sollen den Einsatz des klassischen Pflegepersonals ergänzen. Das kommt dem wachsenden Bedarf entgegen

Vorlesen und zuhören? Das kam bislang zwischen Waschen, Füttern und Tablettenausgabe oft zu kurz

VON HEIDE REINHÄCKEL

Schauspielerin Désirée Nick ist auf dem Plakat um viele Jahre gealtert – mittels Photoshop. Sie ist eine von fünf Promis, die bis Januar dieses Jahres im Rahmen der Senatskampagne „Gepflegt in die Zukunft“ für Berufe in der Altenpflege warben. Denn der Pflegebereich hat Zukunft: In 15 Jahren werden fast ein Viertel der Berliner 65 Jahre und älter und rund 170.000 Berliner und Berlinerinnen pflegebedürftig sein. Damit wächst auch der Arbeitsmarkt in einer Branche, die für ihren chronischen Personalmangel bekannt ist.

Zugleich entstanden zum 1. Januar 2015 in Berlin 780 neue Stellen für Betreuungsassistenten in Pflegeheimen und Einrichtungen der Tagespflege. Hintergrund war die Reform der Pflegeversicherung zu Jahresbeginn. Mit dem Inkrafttreten des Ersten Pflegestärkungsgesetzes verbesserten sich die Leistungen für Pflegebedürftige und ihre Angehörigen. Dazu zählt auch, dass mit rund 1 Milliarde Euro die Zahl der zusätzlichen Betreuungskräfte in stationären Pflegeeinrichtungen deutschlandweit von bisher rund 25.000 auf bis zu 45.000 erhöht werden soll.

„Einen Boom wie 2008 bei der Einführung des Betreuungsassistenten können wir nicht verzeichnen, aber die Klassen sind kontinuierlich voll“, sagt Nicole Bünger vom Forum Berufsbildung in Berlin. Das Forum ist zugleich Berufsfachschule für Altenpflege und einer der zahlreichen Anbieter von Qualifizierungskursen für Betreuungsassistenten in Berlin. Hier kann man einen 11-wöchigen Kurs zum Betreuungsassistenten absolvieren, der ein vierwöchiges Praktikum umfasst. Voraussetzung sind ein fünftägiges Orientierungspraktikum und Interesse am Umgang mit pflegebedürftigen Menschen. Dabei gehen Betreuungsassistenten keinen pflegerischen Tätigkeiten nach, sondern begleiten die Pflegebedürftigen im Alltag: aktivieren, vorlesen und zuhören. Dadurch entlasten sie auch das Pflegepersonal, das zwischen Waschen, Füttern und Tablettenausgabe oft keine Zeit für solche Zuwendung hat.

„Die zusätzlichen Mitarbeiter stehen nicht mehr nur den demenzkranken Heimbewohnern zur Verfügung, sondern können die Betreuung aller Menschen in den Pflegeeinrichtungen spürbar verbessern“, sagt bpa-Geschäftsführer Herbert Mauel. Der Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste (bpa) ist mit über 8.500 Mitgliedseinrichtungen die größte Interessenvertretung privater Anbieter sozialer Dienstleistungen in Deutschland.

Die Kurse werden komplett von der Arbeitsagentur oder dem Jobcenter finanziert, auch die Teilnahme von Selbstzahlern ist möglich. Es kommt ebenso vor, dass sich Pflegekräfte, die aufgrund körperlicher Beschwerden nicht mehr waschen, heben und tragen können, aber weiterhin in der Pflege arbeiten möchten, zum Betreuungsassistenten umschulen lassen. In diesen Fällen übernimmt die Rentenversicherung die Kosten. Laut Bünger finden sich in den Kursen viele Quereinsteiger und mehr Frauen als generell in der Pflege. Fortbildungsinhalte sind unter anderem die medizinischen Grundlagen von Alterserkrankungen wie beispielsweise Demenz, Betreuungskonzepte, Bewegungsförderung, Kommunikation und kreatives Gestalten. Zudem bietet das Forum Berufsbildung Auffrischungskurse für den Betreuungsassistenten an, denn in Pflege verändern sich die Dinge schnell.

Hintergrund der bundesweiten Personalaufstockung im Bereich der Betreuungsassistenten oder Alltagsbegleiter ist eine neue Ausrichtung des Begriffs der Pflegebedürftigkeit. Künftig sollen die individuellen Bedürfnisse der Pflegebedürftigen und deren aktive Teilnahme am Alltag im Mittelpunkt stehen. Außerdem soll die strikte Trennung von körperlichen und psychischen Erkrankungen aufgehoben werden. War das Berufsbild des Betreuungsassistenten zuvor vor allem auf die Betreuung Demenzkranker ausgerichtet, so sollen die Betreuungsangebote künftig allen Pflegebedürftigen mit Pflegestufe offenstehen.

„Dass die Betreuung nicht mehr nur auf alte Menschen spezialisiert ist, sondern nun auch junge Menschen mit körperlicher Beeinträchtigung umfasst, macht das Berufsbild weiter und spannender“, so Bünger, die am Forum Berufsbildung für Bildungsberatung und Lehrgangskoordination verantwortlich ist.

Auch der Deutsche Pflegerat, der 2008 bei der Einführung des Berufs noch vor einer zu geringen Qualifizierung gewarnt hatte, begrüßt den verstärkten Einsatz. „Alltagsbegleiter und Betreuungsassistenten können sinnvoll, unterstützend und entlastend für die Arbeit der Pflegeprofis sein“, so Andreas Westerfellhaus, Präsident des Deutschen Pflegerates. Voraussetzung sei eine enge Kooperation und fachliche Absprache mit den „professionell Pflegenden“.

Auch wenn Betreuungsassistenten und Pflegende bei der Zusammenarbeit gut harmonieren, behebt das noch nicht den Personalmangel der Branche. Es mangelt nicht zuletzt an Interessenten für die bislang ausgeschriebenen Stellen, weil die Altenpflege schlechter entlohnt wird als andere Tätigkeiten in Ausbildungsberufen. Examinierte Fachkräfte bekommen kaum 2.400 Euro – Vollzeit, brutto und inklusive der Nachtzuschläge. In diesem Jahr sollen in den Heimen und Diensten Berlins 2,5 Prozent mehr Lohn gezahlt werden. Ein großer Sprung ist das bei Weitem nicht. Der Bedarf an Betreuern und Pflegern wächst deutlich schneller.