Geheimnisse wiegen zu schwer

POESIE Die Dichterin und Spoken-Word-Performerin Andrea Gibson erreicht mit ihrer Lyrik ungewöhnlich viele Menschen. Daher ist sie heute bei ihrem ersten Auftritt in Berlin auch gleich im Postbahnhof zu erleben

VON TANIA WITTE

Mit Poesie große Säle füllen? Ein Wunschtraum vieler Lyriker, der beinahe niemals in Erfüllung geht. Es sei denn, zu den Gedichten gesellt sich Rhythmus, gesellt sich Bühnenpräsenz, gesellt sich das, wonach alle streben und was auf allen Kanälen ständig gefordert wird und darüber zu einem ausgelutscht scheinenden Ideal verkommen ist: Authentizität. Andrea Gibson hat alles.

Seit über zehn Jahren teilt die im US-amerikanischen Maine geborene Spoken-Word-Performerin ihre Kunst, ihre Gedanken und in gewissem Sinne sogar sich selbst mit einem immer größer werdenden Publikum. Sie gewann zahlreiche Awards und wurde 2008 die erste Preisträgerin des Women of the World Poetry Slam. In diesem Jahr erschien ihr sechstes Buch, „Pansy“, Anlass zu einer Tournee, die Gibson am Samstag auch nach Berlin führt.

„Ich war schon in Deutschland, aber noch nie in Berlin“, verrät sie im Gespräch. „Ich wollte schon immer mal hin, weil ich von allen Seiten höre, dass die Stadt unglaublich sein soll.“ Schon jetzt hat Gibson den Verdacht, dass ihr das Gehen schwer fallen wird, und doch wird sie keinen Tag bleiben, Rotterdam am Vortag, Hamburg am folgenden, der Tourplan ist engmaschig. Das ist der Preis der Berühmtheit – das viele Reisen, das sie nur mit Freunden an der Seite durchsteht, mit Freunden und ihrem Hund Squash. Dem hat sie natürlich auch ein Gedicht geschrieben, weil das eben ihre Art ist, sich auszudrücken. „A letter to my dog, exploring the human condition“ heißt es und birgt Zeilen wie diese: „Humans hold so tight to the leash of life but you will roll in anything dead and wear it like perfume / I wish I had your nose for eternity“.

In Richtung Leichtigkeit

Wenn vielleicht auch nicht für die Ewigkeit, so hat Gibson doch eine besondere Nase, nein, Hand: für Worte, die erst in der Performance zu voller Kraft gelangen. Die Künstlerin kann philosophisch-humorvoll, sie kann politisch-wütend, sie kann verzweifelt, romantisch und verletzlich sein. Und ist dabei so offen gegenüber Fans und Followern, wie es der Zeitgeist fordert. Geheimnisse braucht und mag sie nicht. „Für mich sind Geheimnisse etwas, das schwer wiegt. Ich bewege mich lieber in Richtung Leichtigkeit“, sagt sie. Und geht sogar noch weiter: „Jeder Mensch erschafft sich seine Sicherheit anders. Ich selbst fühle mich umso sicherer, je mehr ich enthülle. Je geschützter ich bin, desto panischer bin ich auch.“

Das Publikum, ob lesend, lauschend oder zusehend, liebt sie dafür. Und Gibson selbst ist dankbar, dass sie ihre Gefühle und Gedanken öffentlich und angstfrei äußern darf. „Ich denke, es ist wichtig, nicht zu vergessen, dass nicht jeder Mensch die Sicherheit hat, seine Wahrheiten laut auszusprechen. Es ist ein Privileg, auf der Bühne zu tun, was ich tue, ohne um meine Sicherheit fürchten zu müssen. Viele Menschen haben dieses Privileg nicht. Manchmal ist Schweigen nötig, um zu überleben.“

Wie wichtig Allianzen sind, um Schweigen zu brechen, hat Gibson in ihrer Spoken-Word-Laufbahn, die Anfang der 2000er Jahre im kalifornischen Boulder ihren Anfang nahm, längst verinnerlicht. Sie kooperiert mit anderen Künstlerinnen und ist eine streitbare queerfeministische Aktivistin – wohlgemerkt ohne sich selbst als Frau zu bezeichnen. Andrea Gibson bezeichnet sich als genderqueer und bevorzugt im Englischen das neutrale Pronomen „they“, für das es im Deutschen noch kein Äquivalent gibt. „ ‚They‘ passt einfach am besten zu meiner Gender-Identität“, erklärt sie. „Aber ich zucke auch nicht zusammen, wenn mich Menschen mit ‚er‘ oder ‚sie‘ ansprechen.“

Das Leben, das von der Norm abweicht, ist ein Kernpunkt in ihrer Arbeit, aber generell kann alles, was sie berührt, Anlass zu einem Gedicht sein. Sie schreibt gern zur Musik, und performt ihre Texte gelegentlich mit Musikerinnen. „Es passiert mir heutzutage kaum noch, dass ich schreibe, ohne darüber nachzudenken, wie dieser Text sich mit Musik anhören würde“, sagt sie, und so werden ihre Gedichte getrieben von Rhythmus der Worte und dem des Inhalts.

Die baptistisch erzogene Gibson, die in einer katholischen Schule sozialisiert wurde, mag die Kontroversen, und sie mag es, aufzurütteln. Auch gern in Kirchenkontexten. In einem Gespräch mit dem amerikanischen Interview-Magazin sagte sie einmal, dass der Moment, in dem sie sähe, wie ein Mensch seine Meinung ändert, für sie etwas sehr Spezielles habe. Vielleicht weil sie selbst das auch gern tut, ihre Meinung ändern, sich hinterfragen, über Grenzen gehen, wachsen. Mit jedem Auftritt von Neuem – sie leidet nämlich unter extremem Lampenfieber und ist der Bühne doch verfallen. Die Scheinwerfer, der Applaus, das Gelächter und die Tränen im Publikum haben bekanntlich Suchtfaktor.

Diese Droge wird auch Berlin bedienen, denn Gibson kann sich gewiss sein, auf ein zahlreiches Publikum zu treffen – sicherheitshalber wurde das Konzert in den Postbahnhof verlegt. Das ursprünglich geplante Lido war zu klein für ihre Worte.

■  Andrea Gibson am Samstag im Postbahnhof, Straße der Pariser Kommune 8, 20 Uhr