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Archiv-Artikel

Auf den Spuren des Klaviers

PER PEDES Ein neuer Wanderweg im Harz erinnert an die Ursprünge der Piano-Dynastie Steinway & Sons. Die geistige Grundlage liefert ein Besuch im Seesener Museum

VON REIMAR PAUL

Anmutig plätschert die Schildau, dunkelgrün glänzt das Wasser in den Teichen. Enten und Haubentaucher fischen nach Essbarem, Frösche quaken, das Sonnenlicht bricht sich im Blätterdach der hundert und mehr Jahre alten Bäume. An einem Freiluft-Schachtisch sind zwei Senioren in eine Partie vertieft, ein Jogger dehnt an einer schwebebalkenartigen Holzkonstruktion seine Muskeln. Fasziniert beobachtet ein Golden Retriever die Verrenkungen.

Zu dem fast halbstündigen Fußmarsch durch das trostlose Zentrum von Seesen bietet der Steinway-Park am südöstlichen Ende der 20.000-Einwohner-Stadt einen angenehmen Kontrast. Der Park ist gleichzeitig Startpunkt für den erst am 9. Mai offiziell eröffneten „Steinway-Trail“. Der kulturgeschichtliche Wanderweg führt auf den Spuren der aus dieser Region stammenden Klavierbauer-Dynastie Steinweg/Steinway bis in das rund 14 Kilometer entfernte Harz-Dorf Wolfshagen.

Der inhaltlichen Vorbereitung des Wandertages hat ein Besuch im Seesener Museum gedient. Dort ist eine ganze Etage der Familiengeschichte von Steinway & Sons gewidmet. Der in Wolfshagen geborene Heinrich Engelhard Steinweg (1797–1871) siedelte 1825 nach Seesen über, ließ sich dort als Tischler nieder und baute in seinem Wohnhaus ab 1836 seine ersten Klaviere und Flügel, bevor er 1850 in die USA auswanderte. Dort nannte er sich Henry E. Steinway und gründete in New York seine erfolgreiche Firma. Im damals zersplitterten deutschen Reich hatte Steinweg für seine Klaviere keine Verkaufschancen mehr gesehen.

In der ersten Etage des Museums prangt auf einem Podest der wuchtige Flügel, den Heinrich Steinweg 1853 als erstes Klavier in New York fertigte. „Der ist zwar noch spielbar, klingt aber schrecklich“, sagt Museumsleiter Friedrich Orend. An der Wand hängen Fotos des Steinweg’schen Hauses in Seesen und eine Reproduktion der Verkaufsanzeige. Ein Gemälde zeigt den Meister beim Klavierbau.

Zwölf Kinder hat Steinwegs Frau Juliane in Seesen zur Welt gebracht, drei sind kurz nach der Geburt gestorben, sechs mit dem Ehepaar emigriert. Der älteste Sohn bleibt zunächst in Deutschland und gründet in Braunschweig die Klavierfabrik „C. F. Theodor Steinweg“. Als auch er in den USA gebraucht wird, verkauft er sie und tritt ebenfalls in die Firma des Vaters „Steinway & Sons, New York“ ein. Die Braunschweiger Fabrik heißt fortan „Grotrian-Steinweg“.

Mit zahlreichen Patenten revolutionieren vor allem die Brüder Theodor und Henry den Instrumentenbau, sie gelten als Schöpfer des modernen Klaviers. Ihr jüngerer Bruder William (1835–1896) steuert kaufmännisches Talent zum Erfolg des Unternehmens bei. Auf seine Initiative hin kommt es 1880 zur Gründung von „Steinway & Sons, Hamburg“. Nach der Eröffnung weiterer Filialen unter anderem in Tokio und Schanghai übernimmt 1972 der Medienkonzern CBS das Unternehmen. 2013 geht es für mehr als 500 Millionen Dollar an den Hedgefonds-Manager John Paulson.

William Steinway bleibt stets auch Seesen verbunden. Er unterstützt die Armen der Stadt und stiftet ihr den Park. Zum Dank ernennen ihn die Stadtväter zum Ehrenbürger. Die Eröffnung des Steinway-Parks im Jahr 1899 erlebt William nicht mehr. An ihn erinnert dort, neben einem der Teiche, ein zwei Meter hoher Gedenkstein aus Granit; Williams Kopf ziert als überdimensionierter Scherenschnitt das Dach der Konzertmuschel.

Markiert mit einem stilisierten Piano, das mal auf Felssteine gemalt, mal als große Holzskulptur am Wegrand aufgestellt ist, kann man den „Steinway-Trail“ kaum verfehlen. Gelegentlich mäßig ansteigend, bisweilen einige Bäche querend, windet sich der Weg in nordwestlicher Richtung ins Gebirge hinein. Weitere Spuren aus dem Leben der Familie Steinway finden sich zunächst nicht. Heinrich Steinweg soll aber vor seinem Umzug nach Seesen oftmals hier entlanggeschritten sein, um seine Verlobte und spätere Frau in Seesen zu besuchen.

Klares Wetter vorausgesetzt, bieten sich mehrmals schöne Ausblicke über das Leinetal hinweg bis ins Weserbergland. Eine Einkehr ist nur in der von Mai bis Oktober bewirtschafteten Neckelnbach-Hütte möglich, die allerdings bereits nach einer halben Stunde Fußmarsch erreicht ist, sowie im etwas abseits der Strecke gelegenen Gasthaus an der Innerste-Talsperre. Das Harzer Quellwasser, mit dem auch Großstädte wie Bremen und Göttingen versorgt werden, ist jedoch von hervorragender Qualität und kann bedenkenlos aus den Bächen geschöpft werden.

Auf einer abschüssigen Weide grasen Dutzende rotbraune Rinder. Begleitet von Hunderten Schaulustigen ist das Harzer Höhenvieh erst Anfang Mai aus den Ställen den Berg hinaufgetrieben worden. Mitte des vergangenen Jahrhunderts fast ausgestorben, ist der Bestand mittlerweile wieder nachgezüchtet worden. An die 400 „Rotbraune“ soll es im Harz inzwischen wieder geben. Sie sorgen durch das Abgrasen dafür, dass die Vegetation erhalten bleibt und sich die Bergwiesen im Sommer in Blütenmeere verwandeln.

Nach knapp vier in gemütlichem Tempo absolvierten Stunden erreichen wir Wolfshagen. 2.300 Einwohner leben in dem als Luftkurort ausgewiesenen Dorf, viele vom Tourismus. Es gibt mehrere Hotels und Cafés, einen Campingplatz und ein schön gelegenes Freibad. Das Haus, in dem Heinrich Engelhard Steinweg geboren wurde und aufwuchs, suchen wir vergeblich – es wurde 1906 durch einen Brand zerstört. Das Taufbecken in der evangelischen St.-Thomas-Kirche, in dem Heinrich getauft wurde, ist allerdings noch zu besichtigen.

2010 riefen örtliche Honoratioren den Verein Wolfshäger Steinway ins Leben. Er veranstaltet in der Festhalle des Dorfes regelmäßig Klavierkonzerte – die Musiker spielen natürlich auf einem Flügel von „Steinway & Sons“. Etwas problematisch gestaltet sich der Rückweg: Wer die Strecke nicht noch einmal zu Fuß gehen will oder sich nicht abholen lassen kann, muss auf ein Taxi (rund 30 Euro) oder den öffentlichen Nahverkehr umsteigen. Eine direkte Verbindung gibt es aber nicht. Ein Bus der Linie 832 bringt Reisende zunächst bis Langelsheim, von dort verkehrt eine Regionalbahn nach Seesen.