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Archiv-Artikel

Die Nase kann bluten

MÜNCHNER KAMMERSPIELE Was plant Matthias Lilienthal, der neue Intendant? Ein Einblick ins Programm der ersten Spielzeit

VON ANNETTE WALTER

An einem Sonntagabend im April kann man schon einmal ahnen, was ab Herbst auf die Münchner zukommt: Die Spielhalle ist bis zum letzten Platz besetzt. Alle wollen Lilienthal und seine „Shabbyshabby Apartments“ sehen: über 20 temporäre Behausungen in der ganzen Stadt, für je 250 Euro von Kreativteams aus ganz Europa zusammengebastelt. Gemurmel danach im Foyer: „Eine Hütte aus Badewannen? Abenteuerlich.“ „Ein Apartment aus Seide auf der Maximilianstraße? Und wenn es regnet?“ Genug Gesprächsstoff und exakt das, was die Intendanz charakterisieren wird.

Ein paar Wochen später sitzt Matthias Lillienthal in der Kantine der Kammerspiele beim Mittagessen. Der Berliner wohnt jetzt seit zehn Monaten in München, in einer Wohnung im Glockenbachviertel. Giesing, da, wo die Sechziger und zumindest noch ein paar Boazn – rustikale Bierlokale – und Prolls zu Hause sind, hätte ihm auch gefallen. Er lobt Münchens Großzügigkeit, das leicht südliche Flair, dass „hier immer gutes Theater und große Ausstellungen waren und sind“. Es schmeckt ihm im Wirtshaus, und einer seiner Freunde ist jetzt der SZ-Journalist Alex Rühle, der Münchner Vorkämpfer gegen Luxusimmobilien und Gentrifizierung. Man kann sagen: Da ist einer angekommen.

Einer, der sich mit „Shabbyshabby Apartments“ in die Kommunalpolitik einmischt: „Sollte die Stadt nicht anstelle von 8.000 bis 12.000 Wohnungen 35.000 pro Jahr bauen?“ Einer, der an die Linie seiner Vorgänger Frank Baumbauer und Johan Simons anknüpfen, aber ein, zwei Schritte weitergehen will: „Ich ersetze Amsterdam und Gent durch Paris und Tokio.“ Lilienthal war in Basel einst Dramaturg unter Frank Baumbauer, der vor dem derzeitigen Hausherrn Johan Simons das Haus auf der Maximilianstraße leitete. Das Bekenntnis zum Anknüpfen klingt aber auch wie eine Beruhigung für Skeptiker, die befürchten, die Kammerspiele würden vom Ensembletheater zur „Eventbude“ heruntergerockt. Zur Debatte, mit der Claus Peymann kürzlich die Personalie Chris Dercon an der Volksbühne aufheizte, mag sich Lilienthal im Interview nicht mehr äußern.

In der neuen Spielzeit erweitern viele Protagonisten der freien Szene das Kammerspiel-Ensemble um bekannte Größen wie Brigitte Hobmeier, Steven Scharf und Thomas Schmauser. Etwa der Libanese Rabih Mroué mit „Ode to Joy“, das die Entstehung von Gewalt und Terrorismus mit dem Olympia-Attentat von 1972 im Zentrum behandelt. Oder Rimini-Protokoll mit „Adolf Hitler: Mein Kampf Band 1 & 2“ und „Peaches Christ Superstar“. Daneben gibt es zahlreiche Übernahmen aus der Vorgänger-Intendanz, Jelinek, Bierbichler und Klassiker wie „Der Kaufmann von Venedig“ vom neuen Hausregisseur Nicolas Stemann.

Lilienthal nennt das einen Versuch, eine Hybridisierung des Stadttheaters hinzukriegen. Konkret heißt es im Spielzeitheft, dass man sich weiterentwickle bis „zum Punkt, an dem es die falsche Alternative zwischen freier Gruppe und Stadttheater so nicht mehr gibt“. Der Berliner Zeitung sagte Lilienthal vor ein paar Jahren, er finde es skandalös, dass sich München keine freie Produktionsstätte leiste. Nun kann er das ändern: Geplant sind jetzt „alle möglichen Mischformen zwischen Stadttheater und 25 freien Gruppenprojekten und alle möglichen Formen dazwischen. Dieser utopische Versuch ist es mir wert, dass wir uns vielleicht blutige Nasen holen. So lange es kein freies Produktionshaus in der Stadt gibt, werden wir einen Teil dieser Lücke schließen“, erklärt Lilienthal. Ein solches Haus soll 2018 öffnen. Also alles ganz behutsam: „So was aufzubauen braucht Zeit. Am HAU hat das sieben Jahre gedauert.“ Ein spannender Spielort befindet sich künftig im Wohn- und Kulturzentrum für Flüchtlinge in der Müllerstraße. Im „Munich Welcome Theatre“ sollen, nur wenige Meter Luftlinie vom Luxuswohnturm „The Seven“ entfernt, „Geflohene in die Arbeits- und Gestaltungsprozesse des Theaters einbezogen werden“ – ein spannendes Vorhaben, das in München bisher nicht existierte.

Lilienthals Pläne klingen wie ein Versprechen, die Kammerspiele aufregend neu zu definieren. Er will mehr Frauen in der Regie und das Haus stärker zur Popkultur öffnen. Wolfgang Tillmans kuratiert das Spielzeitheft mit Fotos zum Thema „Kammer“. Schauspielhaus, Spielhalle und Werkraum heißen jetzt Kammer 1 bis 3, analog zu Lilienthals früheren Berliner Wirkungsstätten HAU 1 bis 3. Es gibt eine Reihe mit dem Titel „Episode“, in denen das Format der Fernsehserie diskutiert wird. Das Viertel um die Kammerspiele, eine Pradaguccilouisvuitton-Ödnis, in dem im letzten Jahr mit dem Atomic Café ein signifikanter popkultureller Ort dichtgemacht wurde, wird mit einer temporären Bar bereichert. Und vielleicht kommt Lilienthal sogar ins heimische Wohnzimmer auf einen Drink. Da fragt man sich ja schon mal, wann der Mann das alles unterbringen will. Bis man hört, dass seine Tage gern mal 14 Stunden dauern. „Ich bin so ein alter Hippie, weil ich keinen Unterschied zwischen Job und Privatheit mache“, sagt er. Die Überforderung bleibe also wie bisher: „Ich gehe mit mir eine Runde schlimmer um als mit anderen.“