: „Früher eine Selbstverständlichkeit: Nie wieder Krieg!“
LEHREN DER GESCHICHTE Nicht immer war der „Tag des Sieges“ nationaler Feiertag. Heute werden Erinnerungen an den wahren Krieg aus dem Bewusstsein getilgt, sagt Nikita Sokolow. Der russische Historiker über Patriotismus, verstörte Studenten, verbotene Zweifel
■ ist Historiker und war bis Ende 2014 Chefredakteur der renommierten historischen Zeitschrift Otetscheswennije Sapiski (Vaterländische Notizen). Zurzeit ist er stellvertretender Leiter der Forschungsabteilung im Museum für Moskauer Geschichte.
taz: Herr Sokolow, Russland feiert den 70. Jahrestag des Sieges über Nazideutschland. War der „Tag des Sieges“ immer der wichtigste nationale Feiertag?
Nikita Sokolow: Unter Stalin war der 9. Mai nicht einmal arbeitsfrei. Es gab keinen Feiertag. 1965 wurde der Tag erstmals mit einer Militärparade begangen. Damit wollte der damalige Generalsekretär der KPdSU, Leonid Breschnew, dem sozialistischen System wieder etwas Leben einhauchen und das Ansehen stärken.
Warum ließ Stalin den Triumph nicht feiern?
Stalin hasste die Frontkämpfer. Das war nicht die Armee, die er gegründet hatte. Sein Heer hatte der Feind 1941 schon geschlagen. In ihm herrschten Angst und blinder Gehorsam. Erst die neue Armee 1943 war nicht mehr ein rein Stalin’sches Produkt. Nach dem Hitler-Stalin-Pakt hielten die meisten Russen die Deutschen nicht für Feinde. Die Bevölkerung wollte von den Kommunisten befreit werden. Die ältere Generation erinnerte sich noch an die deutsche Besatzung 1918. Damals stellten die Besatzer die Ordnung wieder her und machten dem Bandenwesen ein Ende. Das erwartete man auch diesmal. Erst als die Russen begriffen, dass diese Deutschen was anderes vorhaben, zogen sie schweren Herzens aufseiten der Partei in den Krieg.
Fürchtete Stalin die Soldaten mit Fronterfahrung?
Ein zentraler Gedanke taucht in den Erinnerungen der Frontkämpfer immer wieder auf: Uns wird der Krieg vom totalitären Gedankengut befreien! Acht Millionen „frontowiki“ – Frontsoldaten – kehrten als veränderte Menschen aus dem Krieg zurück. Schon aus Dank erwarteten sie, dass ein Wandel eingeleitet würde. In der Partei regten sich sogar Reformkräfte. Stalin antwortete jedoch mit einer neuen Repressionswelle, die gezielt die fähigeren Leute ausschaltete. Verschwiegen wird bei uns auch wieder, dass Stalin nach dem deutschen Angriff 1941 kopflos auf seine Datscha flüchtete. Traumatische Ängste müssen ihn gequält haben.
Darüber wird heute nicht mehr gesprochen?
Öffentlich nicht. Es gilt als unpatriotisch. Früher war es für uns eine Selbstverständlichkeit: Nie wieder Krieg! Heute sind Erinnerungen an den wahren Krieg aus dem Bewusstsein getilgt. Kühn und geschichtsvergessen heißt es stattdessen: „Wir haben immer alle verprügelt und tun das auch weiterhin.“ Der Schrecken des Krieges verschwindet hinter dem Glanz der Paraden. (…)
… Stolz und Größe sind zu tragenden Säulen des Systems geworden …
Unsere Verfassung verbietet eine ideologische Ausrichtung. Deren Rolle übernahm die Geschichte. Das fing schon 2003 mit der Forderung nach einem einheitlichen Schulbuch an. Dessen Ziel sollte es sein, alle dunklen Flecken zu umgehen und den Schülern vor allem Stolz aufs Vaterland einzuimpfen. In diesem Konzept werden die Nachbarn bewusst gedemütigt und als Übeltäter und Halunken dargestellt. Wohingegen wir immer die Größten sind und einen Sieg nach dem anderen errungen haben. Im selben Atemzug beschreibt sich Russland aber als eine belagerte Festung, die permanent zur Selbstverteidigung gezwungen wird. Warum das dann immer mit einer Erweiterung des Staatsgebietes enden muss, könnte man jetzt fragen.
Und stellen Ihre Studenten solche Fragen?
Wenn ich in der Vorlesung das Leben einfacher Frontsoldaten oder sowjetischer Zwangsarbeiter beschreibe, sind die meisten jungen Studenten verstört: „Wieso müssen Sie uns das alles erzählen?“, fragen sie. „Bislang war alles schön, die Paraden, die ruhmreichen Geschichten …“ Sobald der Preis des Krieges benannt wird, zerbröckelt das ideologische Konstrukt ziemlich schnell.
Ist die Unkenntnis der Geschichte einer der Gründe, warum sich die Jugend nach der Annexion der Krim so kampfbereit gibt?
Der Große Vaterländische Krieg ist in ihren Augen eine einzige ruhmreiche Heldentat, bewusst vollbracht von einem kampf- und siegbereiten Volk. Die Verwerfungen werden übergangen, als wäre das so einfach gewesen. Diese Sichtweise spiegelt sich in solchen gedankenlosen Autoaufklebern wider wie „1941–1945 können wir gerne wiederholen“ (nach russischer Interpretation begann der Zweite Weltkrieg erst mit dem Überfall Deutschlands auf die UdSSR 1941; die Redaktion) oder „Nach Berlin!“. Die Jugend ist voll und ganz zur Konfrontation bereit. Sie kennt ja die Schrecken des Krieges nicht, nur die kanonisierten Erzählungen glorreicher Siege. Außerdem ist die Darstellung der Vergangenheit im Moment das Einzige, worauf die Jugend stolz sein kann.
Ein neues Gesetz verbietet die „Rehabilitierung des Faschismus“. Auch Entscheidungen der Nürnberger Prozesse darf man nicht mehr anzweifeln.
Aktivitäten der Alliierten in der Anti-Hitler-Koalition sind genauso von dem Verbot betroffen wie die Erforschung der sowjetischen Gegenaufklärung. Es wird riesige Graubereiche hinterlassen. Noch etwas Absurdes ist, dass Ehrentage der Streitkräfte auch von Kritik ausgenommen sind. Der 23. Februar ist seit 1918 Tag der Roten Armee, heute Tag der Vaterlandsverteidiger. Der Februar 1918 war unterdessen kein Ruhmesblatt für die Armee. Sie war gerade dabei, als Verlierer aus dem Krieg auszuscheiden. Wie sollen Lehrer damit umgehen? Stellen sie die Geschichte anders dar als im Geschichtsbuch, drohen ihnen fünf Jahre Gefängnis. (Interview-Langversion siehe www.taz.de)
INTERVIEW: KLAUS-HELGE DONATH