: Gemeinsam alt sein
ALTEN-WG Mehrgenerationenhäuser sind die konkrete Utopie der alternden Gesellschaft. Wie man solche Konzepte verwirklichen kann, zeigt das „Leipziger Modell“. Zwei Architektinnen, die das Projekt initiieren, setzten sich dabei auch mit dem Thema Armut auseinander
VON HEIDE REINHÄCKEL
Produktdesign für Senioren, Stadt- und Wohnmodelle für Ältere, das Problemfeld Armut in der dritten Lebensphase – man erhält eine große Spannbreite von Antworten, fragt man die Architektin Lilly M. Bozzo-Costa nach dem Thema „Alter“. An einem Punkt berühren sich aber alle: dem Konzept Mehrgenerationenhaus. Die Italienerin, seit 1998 in Deutschland lebend, will gemeinsam mit der in Prag geborenen Architektin Šárka Voríšková mitten in Leipzig eine Vision verwirklichen: Innerstädtisches und intergeneratives Wohnen soll mit zeitgemäßem Design zusammengebracht werden.
Denn mit grauen Haaren, so die beiden Architektinnen, verschwinde nicht der ästhetische Anspruch. „Viele Alte verbringen 80 Prozent ihres Tages in den eigenen vier Wänden. Umso wichtiger ist eine entsprechende Innenarchitektur. Es wird Zeit, dass Design für Ältere super und sexy sein darf“, sagt Bozzo-Costa.
Verfolgt man die Projektbiografie von Bozzo-Costa, ist die Idee, Stadt, Wohnen, Design und Alter zu verbinden, fast zwangsläufig. Bereits im Rahmen der Internationalen Ausstellung „Shrinking Cities“ war sie mit dem demografischen Wandel beschäftigt und entwarf Stadtmodelle für ältere Menschen. Sie war Initiatorin und Koordinatorin des Projekts „Ü 60 – Design für Morgen“, einer Kooperation der drei Designhochschulen in Halle, Schneeberg und Bozen. Die beteiligten Studierenden entwarfen Produkte speziell für Senioren und erhielten dafür viel Resonanz.
Für Bozzo-Costa, die zur Generation der Babyboomer gehört, ist die Auseinandersetzung mit dem Alter auch immer eine Auseinandersetzung mit der eigenen Zukunft. Dieser Devise folgend hat sie bereits ihren Studierenden beim Projekt Ü 60 immer gesagt, sie sollen so entwerfen, dass ihnen die Objekte im Alter selbst gefallen würden. Dieser Grundsatz gilt für sie auch beim geplanten Mehrgenerationenhaus: „Wir wollen kein gettoisiertes Wohnen ganz gleich welcher Art, es soll nicht organic, öko oder vegan sein, sondern für ganz normale Leute.“
Ihre Kollegin Voríšková, Mitinhaberin eines Leipziger Architekturbüros, hat sich viel mit barrierefreien und altengerechten Planen und Bauen beschäftigt: „Die Idee des Mehrgenerationenhauses Leipziger Modell ist eine konsequente Folge der Suche nach einer Lösung, die den Kriterien entspricht, die ich für mich als die wichtigsten definiert habe: der Anspruch an die zeitgemäße Gestaltungsqualität und die Teilhabe am Leben drumherum“, so Voríšková. Für die ebenfalls seit den 1990er Jahren in Leipzig lebende Pragerin lässt der momentane knappe Wohnungsmarkt wenig Raum für Experimente zu, obwohl neue Lösungen ausprobiert werden müssten. „In zehn, zwanzig Jahren holt uns die Realität ein, es ist wichtig, jetzt anzufangen.“
Deshalb haben sich beide Architektinnen der Idee des Mehrgenerationenhauses verschrieben, das mit einer durchdachten Typologie, anspruchsvoller Architektur und ansprechender Gestaltung maßgeblich dazu beitragen soll, selbstbestimmtes Wohnen bis ins hohe Alter zu ermöglichen. Als Haustyp dient dazu ein typisches Leipziger Gründerhaus.
Das Projekt ist relativ frisch aus dem Ideeninkubator der beiden visionären Architektinnen entsprungen, viele Dinge müssen noch geregelt werden, darunter auch die Finanzierung. „Momentan sind wir in der Startphase. Im Herbst wollen wir dann mit einem Manifest, Grafiken und Plakaten unsere Idee des Mehrgenerationenhauses der Öffentlichkeit vorstellen“, so Bozzo-Costa.
Sie befasst sich entgegen den Werbebildern der virilen und finanzkräftigen Silver Ager auch konkret mit dem Thema Altersarmut, das besonders im Ostdeutschland der Zukunft noch virulenter sein wird. Auch diesem Faktor soll das Pilotprojekt Rechnung tragen.
Eifrig knüpft und pflegt Bozzo-Costa Kontakte, auch zu vielen Designern aus dem Ü-60-Projekt, besucht Pflegemessen, wo sie jedoch oft eine einseitige Festlegung auf eine Zielgruppe wie beispielsweise Demenzkranke stört. Überhaupt ist internationale und interdisziplinäre Kollaboration, das Zusammenbringen von verschiedenen Köpfen, Anreiz und Stärke des Projekts. So werden an der Realisierung Architekten, Innenarchitekten, Produktdesigner und Landschaftsplaner beteiligt sein.
Für Bozzo-Costas Kollegin hat der Wert des gemeinsamen Wohnens im Mehrgenerationenhaus überhaupt eher mit dem Sozialen zu tun: „Der Schwerpunkt der jetzigen Entwicklung liegt oft bei der Anwendung der technischen Assistenzsysteme. Ich sehe die Qualität des Wohnens in der Qualität des sozialen Umfelds“, betont Šárka Voríšková. So sind für das Pilotprojekt viele räumliche Situationen für zufällige oder gezielte Begegnung geplant wie beispielsweise Sitzbänke oder Sitznischen vor dem Hauseingang. Nicht fehlen dürfen in der Ursprungsstadt der Schrebergartenbewegung natürlich auch ein Gemeinschaftsgarten und individuelle Parzellen für die Bewohner.