: Die Moderne kommt bis nach Barsetshire
KLASSIKER Einer, der die Rolle des Geldes verstand: Der britische Vielschreiber Anthony Trollope wird ein bisschen wiederentdeckt. „Septimus Harding“
Die große Virginia Woolf ist für ihre mitunter gnadenlosen Urteile über Autorenkollegen bekannt. „Wir glauben an Barsetshire wie an unsere wöchentlichen Rechnungen“ – so lautete ihr viel zitierter Satz, den sie einmal auf Anthony Trollope und die von ihm ausgedachte Grafschaft Barsetshire münzte, in der der Vielschreiber seine sechsbändige „Barsetshire Novels“ spielen ließ. Ein zwiespältiges, wenn überhaupt ein Lob. Dass man an den Realitätsgehalt dieser Romane glauben kann, steckt darin. Aber auch so etwas wie: lästig, doch man kommt halt nicht drum herum. Er gehörte zu den meistgelesenen Schriftstellern seiner Zeit.
Trollope (1815–1882) lebte in der Epoche von Charles Dickens, William Thackeray und den Bronte-Schwestern, war hauptsächlich Postbeamter und verfasste 47 Romane, Reisebeschreibungen, Essays, Biografien und sogar ein Bühnenstück. Viele rümpften über ihn die Nase. Henry James etwa, der pikiert schrieb: „Das Leben ist vulgär, aber wir wissen nicht, wie vulgär, bis wir es in seinen Büchern niedergeschrieben sehen.“
Bürgerliches Arbeitsethos
Beim Schreiben – so erklärt sich das gigantische Volumen seines Werks – ging Trollope akribisch und nach strengen Regeln vor, wie es seinem bürgerlichen Arbeitsethos von Fleiß und Ordnung entsprach. Er schrieb frühmorgens, bevor er seiner Tätigkeit als Inspektor der britischen Postbehörde nachging. Angeblich sah es seine selbst auferlegte buchhalterische Methodik vor, in 15 Minuten auf eine ganze Seite (von 250 Wörtern) zu kommen. Die Uhr stand tickend auf dem Schreibtisch, zum Feilen fehlte die Zeit.
Ein großer Stilist ist Anthony Trollope sicher nicht. Aber Romane wie „Die Türme von Barchester“ oder „Die Claverings“ besitzen durchaus einigen Reiz. Vom Manesse Verlag neu aufgelegt wurde gerade der „Septimus Harding“ – so lautet die deutsche Übersetzung von „The Warden“, des ersten und beliebtesten Romans der Barsetshire-Reihe, die einen Querschnitt durch das bürgerliche Alltagsleben in der Provinz darstellt, inklusive dessen Licht- und Schattenseiten.
Im Zentrum steht der angesehene Geistliche Septimus Harding, der als Kantor und Vorsteher eines Armenstifts mit seiner jüngeren Tochter in dem fiktiven Domstädtchen Barchester lebt. Ausgerechnet der fortschrittlich denkende John Bold, Familienfreund und Schwiegersohn in spe, stellt die Rechtmäßigkeit von Hardings Einkünften als Stiftsvorsteher in Frage – mehr oder weniger verleitet von einem antiklerikalen Reporter der boulevardlastigen Tageszeitung Jupiter, hinter der sich ziemlich deutlich die Times verbirgt. Prompt ist der mediengesteuerte Shitstorm entfesselt. Dem Reformer Bold stellt Trollope den konservativen Erzdiakon Theophilus Grantly gegenüber, einen militanten Vertreter des viktorianischen Establishments. Anders als etwa bei Charles Dickens gibt es hier aber keine moralische Schwarzweißmalerei, keinen didaktischen Zeigefinger, beide Antagonisten haben ihre guten und schlechten Seiten.
Am besten ist es wohl, den Roman „Septimus Harding“ zu verstehen als einen Ausschnitt eines Gesamtwerks, das um ein komplexes und differenziertes Gesellschaftsporträt bemüht ist und das Vordringen moderner Entwicklungen in eine von Traditionalismus geprägte Welt zum Grundtenor hat. Für die Lektüre Trollopes braucht es eher ein soziologisch-historisches als ein genuin literarisches Interesse. Aber interessant ist es dann eben. Es gibt Parallelen zum französischen Autorenkollegen Honoré de Balzac, dessen Romane gelegentlich durchaus auch ins Triviale abdriften. Der amerikanischer Dichter W. H. Auden ging noch weiter: „Von allen Romanautoren egal in welchem Land verstand Trollope am besten die Rolle des Geldes. Verglichen mit ihm ist sogar Balzac ein Romantiker.“ TOBIAS SCHWARTZ
■ Anthony Trollope: „Septimus Harding, Spitalvorsteher“. Aus dem Englischen von Andrea Ott. Manesse, Zürich 2015, 384 Seiten, 22,95 Euro