: Gedenktafel to go
GESCHICHTE Berliner Studierende haben einen downloadbaren Audioguide fürs Smartphone entwickelt, der die Hardenbergstraße entlangführt. Der Völkermord an den Armeniern wird hier ebenso thematisiert wie der Selbstmord Cemal Kemal Altuns
VON MARCO WEDIG
Der Vorplatz des Ludwig-Erhard-Hauses ist eher ein Platz zum Vorbeigehen als zum Gedenken. Nichts deutet darauf hin, dass es sich bei diesem Allerweltsort auch um einen Tatort handelt – zumindest nichts in der analogen Welt. Die historische Bedeutung wird erst durch das Smartphone erfahrbar. So lernt der Stadtrundgänger, dass hier der Innenminister des Osmanischen Reiches, Talât Pascha, erschossen wurde. Am Freitag vor hundert Jahren ordnete er die Verhaftung armenischer Intellektueller an, eine Entscheidung, die den Weg zum Völkermord an den Armeniern ebnete.
All dies ist über die Website flucht-exil-verfolgung.de, die von Studierenden des Touro-Colleges unter der Leitung von Andreas Nachama entwickelt wurde, zu erfahren. Der digitale Stadtrundgang führt, am Bahnhof Zoo beginnend, entlang der Hardenbergstraße über kleine Abstecher in die Fasanen-, Kant- und Uhlandstraße bis zum Ernst-Reuter-Platz. Grundlage für die Website sind Google-Maps-Daten, die mit einer historischen Karte überdeckt sind. Auf dieser sind die Stationen, zu denen Audio-, Bild- und Textinformationen zum Durchlesen angeboten werden, eingezeichnet. Auch die eigene Position wird per GPS-Einbindung angezeigt. Ein Smartphone und Kopfhörer machen somit die mobile Geschichtsvorlesung perfekt.
Warum die Hardenbergstraße? Einer der federführenden Studierenden, Eike Stegen, arbeitete früher für die Aktion Sühnezeichen Friedensdienste e. V. (ASF), die nun auch das Websiteprojekt unterstützt. Im Rahmen von ASF-Begegnungsprojekten zeigte sich, dass sich an der Hardenbergstraße verschiedene Geschichten von Flucht, Exil und Verfolgung verdichten. Ein armenisch-deutsch-türkischer Knotenpunkt der Historie. So ist die Idee entstanden.
Der Ansatz ist nicht chronologisch, sondern verknüpfend: Die Erschießung Talât Paschas am 15. März 1921 war Teil der „Operation Nemesis“, bei der im Exil lebende Drahtzieher des Genozids zur Strecke gebracht wurden. Paschas Mörder, Soghomon Tehlirian, war der einzige, der gefasst wurde. In seinem Prozess, so ist über die Website zu erfahren, ging es weniger um seine Person als um den Völkermord. Da Tehlirian für unzurechnungsfähig erklärt wurde, endete der Prozess bereits nach zwei Tagen – ohne dass die deutsche Mitverantwortung für die massenhafte Ermordung armenischer Bürger tiefgreifender thematisiert werden konnte.
Für den 1900 geborenen Juristen und Friedensforscher Raphael Lemkin war dieser Prozess wegweisend, lernt man. Die Verabschiedung der „Konvention zur Verhütung und Bestrafung des Genozids“ am 9. Dezember 1948 in der UN-Vollversammlung ist sein Verdienst. Lemkin selbst flüchtete vor den Nationalsozialisten in die USA, seine Eltern wurden getötet. Er hätte persönliche Motive gehabt, die Anti-Genozid-Konvention zu erarbeiten, doch der Anlass seiner Initiative war die Ermordung Paschas, die sich an der Ecke Hardenbergstraße/Fasanenstraße ereignete. Dort, wo jetzt das Ludwig-Erhard-Haus steht.
Einige hundert Meter weiter schlendert ein Polizist die Straße entlang: Wachschutz für das Jüdische Gemeindehaus, das an der Stelle der ehemaligen Synagoge in der Fasanenstraße erbaut wurde. Während der Novemberpogrome 1938 wurde die Synagoge von der SA in Brand gesteckt. Der Student David Zolldan liest hierzu aus der Biografie Isaak Behars vor: „Mein Vater beugte sich zu ihr hinüber, legte den linken Arm um Mamas Schulter und drückte sie an sich: ‚Lea, wein doch nicht. Es sind doch nur Steine, die da brennen.‘ Meine Mutter schüttelte fast unmerklich den Kopf: ‚Ja, Nissim. Jetzt brennen die Steine. Und bald werden auch Menschen brennen.‘ “
Behar wohnte in der Kantstraße 154a. Vier Stolpersteine vor dem Hauseingang erinnern an die Ermordung seiner Familie. Als Ort der Ermordung wird hier Riga genannt. Über die Website ist jedoch zu erfahren, dass Nissim, Lea, Alegrina und Jeanne Behar in Auschwitz getötet wurden. Es ist nicht die einzige Unzulänglichkeit einer klassischen Gedenkform, die durch den digitalen Stadtrundgang aufgezeigt wird. So gibt die Gedenktafel für den Physiknobelpreisträger Eugene Paul Wigner an der TU keinen Hinweis auf dessen Verfolgung durch die Nazis.
Insgesamt warten sieben Hauptstationen und acht Exkurse darauf, entdeckt zu werden. Sowohl für die Hauptstationen als auch für die Exkurse können jeweils 50 Minuten eingeplant werden. Bisher kommt die Website eher akademisch daher; auf Deutsch, Türkisch und Englisch. Die Studierenden planen, bald eine Version in jugendgerechterer Sprache anzubieten.
Auch Nachkriegsgeschichte wird thematisiert: Die Tupamaros Westerlin versuchten am 9. November 1969 einen Anschlag auf das Gemeindehaus in der Fasanenstraße. Dass die dazugehörige Bombe von einem V-Mann des Berliner Verfassungsschutzes geliefert wurde, bleibt unerwähnt. Dies mindert jedoch nicht den Wert der Website. Bei einem so verdichteten Geschichtsprojekt muss es Auslassungen geben.
Laut Eike Stegen stellt das Projekt auch „die Frage, wie unsere Gesellschaft heute mit Minderheiten umgeht“. So wird gleich die erste Station, das Cemal-Kemal-Altun-Denkmal, mit der heutigen Asyldebatte verknüpft. Altun, der als politisch engagierter Student nach Deutschland geflüchtet war, stürzte sich 1983 aus dem sechsten Stock des Verwaltungsgerichts Berlin, weil die Bundesrepublik ein Abschiebeverfahren gegen ihn eingeleitet hatte. Der Ort des Suizids ist heute ein Parkplatz von „Jacques’ Wein-Depot“. Einem scheinbar geschichtslosen Ort seine Historizität zurückzugeben ist ein großes Verdienst.