: 90 Sekunden zerstören ein Land
NEPAL Erdbeben in dem Himalajastaat fordert weit über 2.000 Menschenleben. Rettung aus aller Welt angelaufen. Viele Gebiete sind noch abgeschnitten. Heftige Nachbeben
■ Zerstörte Tempel und ein eingestürzter historischer Turm – auch für Nepals reiches Kulturerbe war der massive Erdstoß am Samstag ein schwerer Schlag. Im Zentrum der Hauptstadt Kathmandu sowie den angrenzenden Königsstädten Bhaktapur und Patan, die ebenso wie weitere Anlagen im Kathmandu-Tal auf der Liste des Weltkulturerbes stehen, wurden mehrere Tempel und Statuen aus dem 12. bis 18. Jahrhundert beschädigt oder ganz zerstört. „Zwei Tempel in Patan sind komplett eingestürzt, am Durbar-Platz (in Kathmandu) ist es noch schlimmer“, sagte der Unesco-Vertreter für Nepal, Christian Manhart. Sie hätten alle UN-Organisationen um Hilfe gebeten. Die Unesco bemühe sich auch herauszufinden, wie die Lage an der Weltkulturerbestätte Lumbini rund 280 Kilometer westlich von Kathmandu ist, das als Geburtsort Buddhas gilt.
■ Im Kathmandu-Tal befinden sich insgesamt sieben Kulturstätten, die gemeinsam von der Unesco als Weltkulturerbe geführt werden. Neben den Durbar-Plätzen der Königsstädte Kathmandu, Bhaktapur und Patan mit ihren Hindu-Tempeln und Palästen gehören dazu auch die buddhistischen Stupas und Klöster von Swayambhunath und Baudha sowie die hinduistischen Tempelanlagen von Pashupatinath und Changu Narayan außerhalb von Kathmandu. (afp)
VON MICHAEL RADUNSKI
DELHI taz | Auch am Sonntag hat in Nepal die Erde gebebt. Um kurz vor 13 Uhr Ortszeit erschütterte abermals ein heftiges Beben den kleinen Staat im Himalajagebirge. Es ist eines von zahlreichen Nachbeben an diesem Tag, mit einer Stärke von 6,7 auf der Richterskala allerdings das heftigste. Offiziellen Angaben zufolge sind an diesem Wochenende in Nepal mindestens 2.200 Menschen ums Leben gekommen. Das nepalesische Innenministerium befürchtet jedoch, dass die Zahl der Toten weiter deutlich steigen wird. Es handelt sich um die schlimmste Katastrophe seit mehr als 80 Jahren.
Seinen Anfang nahm das Unglück am Samstag. Um 11.56 Uhr Ortszeit begann die Erde zum ersten Mal an diesem verheerenden Wochenende zu beben. Knapp 90 Sekunden lang, auf der Richterskala wurde eine Stärke von 7,9 registriert. Das Epizentrum des Bebens lag etwa 80 Kilometer westlich der Hauptstadt Kathmandu in nur 15 Kilometer Tiefe. Im Anschluss kam es zu Dutzenden Nachbeben. „Voraussichtlich wird es in den kommenden 10 bis 15 Tagen weitere Nachbeben geben“, warnt Rajender Chadha vom National Geophysical Research Institute im indischen Hyderabad. Laut Chadha handelt es sich um die größte Katastrophe in Nepal seit 1934. Damals erschütterte ein Erdbeben der Stärke 8,4 den Gebirgsstaat, mehr als 8.500 Menschen kamen ums Leben.
Laut UN-Angaben sind von den Beben 6,6 Millionen Menschen betroffen. Die Regierung Nepals hat den Notstand ausgerufen. „Wir brauchen dringend die Hilfe und das Know-how internationaler Organisationen, um mit dieser Katastrophe umgehen zu können“, sagte Informationsminister Minendra Rijal. In sämtlichen Landesteilen Nepals hat es schwere Schäden gegeben. Große Teile der Infrastruktur des Landes, zahlreiche alte Häuser und die typischen Lehmbauten des Himalaja wurden zerstört. Besonders stark betroffen ist Nepals Hauptstadt Kathmandu. Metertiefe Risse durchziehen die Straßen der Stadt, Häuser sind zerstört, jahrhundertealte Weltkulturerbe- und Pilgerstätten fielen innerhalb weniger Sekunden in sich zusammen. Der einzige internationale Flughafen des Landes musste mehrmals vorübergehend geschlossen werden.
Rund 700.000 Menschen leben in Kathmandu, im Tal um die Stadt fast 2,5 Millionen. Sie wohnen meist in Ziegelbauten von schlechter Bauqualität. Viele Menschen verharrten das Wochenende über auf den Straßen aus Angst vor weiteren Nachbeben, auch bei niedrigen Temperaturen. Die Situation am Sonntag war verheerend: Krankenhäuser und Leichenhäuser sind überfüllt, Blutkonserven und Medikamente gehen zur Neige. Die Stromversorgung könnte lange ausfallen, weil das Erdbeben die Wasserkraftwerke beschädigt hat, von denen Nepal fast seinen gesamten Strom bezieht. Viele Gebiete in Nepal sind schwer zu erreichen, einige Dörfer nur mit Geländewagen oder zu Fuß. Entsprechend kann es noch Tage dauern, bis das gesamte Ausmaß der Katastrophe erkennbar wird.
Am Mount Everest haben die Erschütterungen zahlreiche Lawinen ausgelöst. Teile des Basislagers, in dem sich etwa tausend Menschen aufhielten, wurden komplett verschüttet. Mindestens 65 Bergsteiger kamen ums Leben. Zahlreiche Überlebende konnten am Sonntag mit Helikoptern gerettet werden, doch noch immer werden etliche Touristen und Sherpas vermisst.
Das Beben trifft Nepal mitten in der Touristensaison. Der Aufstieg auf die höchsten Berge der Welt ist lediglich in den Frühjahrsmonaten möglich. Laut Schätzungen nimmt Nepal, eines der ärmsten Länder der Region, allein durch die Everest-Expeditionen jährlich knapp 10 Millionen Dollar ein.
Auch in Indien war das schwere Beben zu spüren. Nach offiziellen Angaben kamen auf indischer Seite 57 Menschen ums Leben. In Tibet starben 17 Menschen, in Bangladesch 2. Länder in aller Welt schickten Flugzeuge mit Hilfsgütern wie Nahrungsmitteln, Medikamenten und Kommunikationsgeräten. Allein aus Indien wurden am Sonntag 43 Tonnen Hilfsgüter eingeflogen, darunter Zelte, Wolldecken und Trinkwasser. Auch mehrere Helikopter wurden zur Verfügung gestellt.