: Wo jeder halbe Meter zählt
Beim Hotel Edelweiß gleich bergauf auf 322,5 Meter: zur Expedition auf Hollands höchstem Gipfel in der Niederländischen Schweiz. Wer hauptsächlich unter Dünen und Deichen lebt, kommt schnell ins Zugspitz-Feeling. Das südlimburgische Land ist Hollands Wanderparadies und Wintersportzentrum
von BERND MÜLLENDER
Der Aufstieg ist nicht ohne. Volle 150 Meter Höhenunterschied sind aus dem Tal kommend zu bewältigen, mit 13 Kurven, darunter sogar eine richtige Haarnadelkurve, in der man als Autofahrer schon im zweiten Gang seine Mühe hat. Ein Radfahrer ist gerade an seinem ersten Gang gescheitert und schiebt. Stellenweise hat die eichenwaldgesäumte Strecke locker an die 10 Prozent Steigung. Allmählich weicht die anfängliche Verwunderung, dass Herbergen und Restaurationsbetriebe der Gegend „Alpensicht“ heißen und „Bergruhe“, „Schweizer Hof“, „Edelweiß“ oder „Klein Zwitserland“. Und schon bald wollen uns die sattgrünen Wiesen, die Schafherden, die zahllosen Fachwerkgehöfte und die mediterran anmutenden Bruchstein-Leitplanken an den besonders steilen Straßenrändern fast schon landestypisch erscheinen. Dabei sind wir in Holland. Hier, in des Landes äußerstem Südostzipfel, gleich bei Aachen, der sich allen Ernstes „Niederländische Schweiz“ nennen lässt, haben Wandern, Kraxeln und Wintersport eine beschauliche Nischenheimat gefunden.
Hup Holland hup. Holland ganz weit oben. Noch eine Kurve, und wir nähern uns endlich dem deutsch-niederländisch-belgischen Dreiländereck, wo wir dem Himmel so nah sein werden wie nirgends sonst in diesem so niederen Land. Auf everestöse 322 und einen vollen halben Meter geht es hinan. „Und der halbe Meter ist sehr wichtig“, hatte Riet Vermeeren gesagt, Tourismusmanagerin der Region, „denn wenn man nicht so viel hat, muss man auf Kleinigkeiten großen Wert legen.“
Endlich oben. Das also ist der Vaalserberg. Er empfängt einen als weites Plateau mit viel Wald ringsum – des Landes größter Laubforst, an die 750 Hektar. Dazwischen viele Park- und Kinderspielplätze vor der obligaten Frittenbude und ein kleiner Irrgarten aus Hainbuchen (mit dem kühnem Superlativ: „das größte und modernste Labyrinth Europas“). Aber wo …? Da! Da drüben muss es sein! Doch nicht etwa stolzes Gipfelkreuz ziert den Punkt X, sondern: ein akkurat aufgeschüttetes, mit Wiese bewachsenes Ehrenhügelchen vor einer rot-weiß-blauen Nationalfahne neben einer kleinen kupfernen Gedenktafel.
Was genau ist Punkt X? Hier gibt es viele niederländische Punkte X mit krass abweichenden Höhenangaben. Die offiziell markierte Stelle rundet frech auf 323 Meter auf. Ein Hinweisschild ein paar Schritte weiter führt die richtigen 322,5 Meter an, wohingegen der „natürlich höchste Punkt“ mit mickrigen 322,4 Metern angegeben wird, der indes mitten im Irrgarten liege, dort aber fahrlässigerweise nicht markiert ist. Und Hollands „hoogste punt“ ist nicht der genaue geografische Dreiländertreffpunkt – der liegt vielleicht hundert Meter weiter und gut einen Meter tiefer. Er misst nur 321,4 Meter. „Europas größter Irrgarten“ ist offenbar Teil eines noch viel größeren.
Überhaupt: Vaalserberg. Eigentlich spricht jeder in der Gegend nur vom Dreiländereck. Was für die armen Holländer ein ärgerliches Kuriosum ist, denn sie müssen diese ihre „Attraktion an sich“ (Vermeeren) tragischerweise mit Belgien und Deutschland teilen. Und so ist eine vage innere Zerrissenheit nicht zu übersehen: Zwar lernen alle Niederländer schon als Meisjes und Jongen vom prächtigen „Drielandenpunt“ (dem einzigen ihres Landes übrigens, sonst gibt es nur Wassergrenzen), dennoch nennen sie ihr südlimburgisches Hügelland auffällig fremdelnd das „Ausland im eigenen Land“.
So ist es kein Wunder, dass die niederländischen Urlauber aus den Niederungen der Niederlande hier oben auffällige Verhaltensweisen an den Tag legen. Selbst zu kleineren Spaziergängen im eigenen Ausland werden grundsätzlich dicke Wanderschuhe angezogen. Ständig sieht man nämlich Menschen, die schon bei kleinsten Hügeln ihr Rad schieben. Das liegt daran, dass sie aus den weiten Ebenen ihres Landes ihre gangschaltungslosen Fietse mitgebracht haben. Wahrscheinlich ist die Gegend um die Gemeinden Vaals und Vijlen die mit den meisten Radschiebern der Welt. Noch erstaunlicher, dass es in diesem sonst so pannekoekenflachen Land ein Städtchen gibt, dieses Vaals nebenan nämlich, das seinen Namen von in vallis (also: im Tale) herleitet und dazu selbst noch an die 180 majestätische Meter hoch liegt.
In Vaals wohnten schon Sigmund Freuds Tochter Anna und Kennedys Mutter Rose. Die besuchten hier das Mädchenpensionat. Kann es an dieser Stelle noch überraschen, dass es sogar niederländischen Wein und Champagner gibt? Verkostungsergebnisse verschweigen wir indes höflich. Der Sekt, Château Fromberg, macht sich allerdings gut auf der Zunge. Auch der Glühwein oben auf dem Gipfel, zur Winterszeit, im Café Grenssteen. „Eigentlich kennt man den in Holland gar nicht“, sagt der Wirt. Dass man ihn zusammenbraue, sei ein Zugeständnis „an die Verhältnisse hier oben“.
An die Verhältnisse im Winter. Denn im Winter wird Hollands Hochbalkon sogar zum alpenähnlichen Freudenspender. Das südlimburgische Mergelland ist Hollands Wintersportzentrum! Rodelhügel runterrasen! Schneeballschlachten! Auf endlosen Loipen die Wälder durchkeuchen! Sich alpin zu Tale stürzen! Zumindest theoretisch. Wenn denn mal die Flocken kommen.
Werbebilder der Region zeigen tief verschneite Wälder und eifrige Schneehasen auf flinken Brettern. Kees Verplancken, Regionalleiter des Fremdenverkehrsverbandes VVV, erinnert sich an 1992, als es zuletzt fast eine Woche lang so richtig weiß war, als „viele Rodler vom Vaalserberg herunter ins Tal gesaust“ seien. Und an die Skilangläufer: „Sogar Straßen waren gesperrt, 3.000 bis 4.000 Leute waren unterwegs. Richtig lebhaft war das.“ Lifte gibt es nicht, wohl aber sind 40 Kilometer Doppelloipen rund um den Vaalserberg registriert.
Der Wintereinbruch von 1992 hatte ein investorisches Drama nach sich gezogen, wie ein Blick in den Keller des VVV in Vaals belegt. 400 Paar Langlaufleihski und -schuhe stehen hier brav aufgereiht, eisern bereitgehalten seit damals. Zuletzt, sagt eine VVV-Dame mit einem Anflug von Trotz, hätte man „an einem Tag immerhin mal mehrere Paar ausgeliehen“. Ansonsten bleibt die Hoffnung, dass die Loipenmaschine, die oben am Vaalserberg deponiert ist, nicht einrostet, bis sie denn endlich mal gebraucht wird.
Wahrlich, dieser Berg ist leichter zu erklimmen als zu verstehen. Zu jeder Jahreszeit: Als wollte man Besucher endgültig verwirren, sind hier oben sogar vier und nicht drei alte angemooste Grenzsteine zu einem hinkelsteinhaften Ensemble vereint. Der Grund: Von 1839 bis 1918, als es noch das autonome Erzgrubengebiet Neutral-Moresnet gab, war das Drei- ein Vierländereck. Das sucht weltweit seinesgleichen und hilft auch den zunächst verwirrenden Straßennamen „Viergrenzenweg“ unter dem Richtungsschild „Drielandenpunt“ zu Beginn des Aufstiegs erklären.
Einmal, zu Beginn des Ersten Weltkriegs, hatten die Deutschen den belgischen Grenzstein als vorauseilende Kriegsbeute einfach herunter nach Aachen verschleppt und mussten ihn, als Belgien später überraschend weiterexistierte, kleinlaut wieder herausrücken. Der niederländische Originalgrenzstein steht heute unerklärlicherweise 25 Meter landeinwärts. Eine Vorsichtsmaßnahme gegen uns unberechenbaren Moffen? Was Riet Vermeeren bestreitet: „Das kann man so nicht sagen, nein“, macht sie lächelnd in freundschaftlicher Kooperation.
Ein Gipfel von mannigfaltiger historischer Dimension also. Und auch einer von europäischen Komplikationen: In den 80er-Jahren gab es einmal den mutigen Plan, genau auf dem Dreiländerpunkt in trauter Gemeinschaftlichkeit einen dreiteiligen Turm zu bauen. Das demonstrative Vorhaben scheiterte indes tragisch an den Ausuferungen dreierlei staatlichen Baurechts. Allerdings ist der Gipfel auch ein Lehrstück in Toleranz und Relativität: Wir Deutsche müssen akzeptieren, dass Messdaten in ihrer banalen Exaktheit viel weniger aussagen als die geografisch geprägte Psyche eines Volkes. Denn wer weit mehrheitlich unter Dünen respektive Deichhöhe lebt, wird karge 322,5 Meter in einer Art gefühlter Höhe (altitude chill) unbewusst weit über jedem Zugspitzniveau empfinden.
Deshalb, erzählt Riet Vermeeren, kämen, ob Sommer oder Winter, „Leute aus Hilversum schnell mal her für einen Tag, haben total viel Spaß, abends ganz rote Backen und fahren glücklich wieder nach Hause“. Das dann zum Frommen der sonst so geplagten Sauerländer und Schwarzwälder. Und der verstopften deutschen Autobahnen.