AUF DER KASTANIENALLEE : Hundekacke
Samstagnacht. Ostern. Vollmond. Es sind viele Touristen in der Stadt. Vor einem Haus in der Kastanienallee steht ein asiatisch aussehendes junges Mädchen mit einem riesigen Rollkoffer. Unsere Blicke treffen sich, sie sieht verzweifelt aus und fragt mich auf Englisch: „Sind wir hier in der Kastanienallee?“ Ich bejahe, woraufhin sie sagt, dass sie die Welt nicht mehr verstehe, denn ihre Bekannte wohne in der Kastanienallee 45, aber ihr Name sei auf keinem Klingelschild zu finden. Wir schauen gemeinsam noch einmal nach dem Namen, finden ihn jedoch nicht. Sie sagt, dass sie ihre Bekannte angerufen habe, diese aber schlecht Englisch spreche und immer nur wiederholt habe, dass sie in der Kastanienallee 45 wohnt. Ich rufe die Bekannte an. Nach kurzem Telefonat hat sich das Problem aufgeklärt. Es gibt zwei Kastanienalleen, eine in Prenzlauer Berg und eine in Charlottenburg.
Ich bringe sie zur U-Bahn-Station Eberswalder Straße. Sie ist sehr aufgeregt, alles ist neu und fremd für sie. Sie erzählt mir, dass sie aus Südkorea kommt, derzeit in London wohnt und sich jetzt auf ein paar Tage in Berlin freut. Ihr schwungvoller Elan und ihr jugendlicher Tatendrang erinnern mich an all meine eigenen Reisen. Ich werde ein wenig wehmütig. Wir erreichen die Eberswalder Straße, ich helfe ihr noch beim Ticketkauf, bringe sie hoch zum Gleis, warte mit ihr auf die U-Bahn. Sie ist mir sehr dankbar, dann trennen sich unsere Wege. Ich laufe wieder die Kastanienallee entlang, höre allerorts fremde Sprachen, sehe im Geiste die Nachbilder aus längst vergangenen Tagen: Ich schwitze im brasilianischen Karneval, esse einen Fisch an einer Straßenecke in Lissabon, warte in der Wüste von Nevada auf einen Bus. Und während der Vollmond sein verwunschenes Licht verstärkend in meine Sehnsuchtsbilder wirft, trete ich in einen Haufen Hundekacke und beschließe, mich zu betrinken. ALEM GRABOVAC