: Der talentierte Herr Ri
Besuch im Nordkorea Kim Il Sungs: Die fleißigen Studenten kommen immer zu zweit, sie sind sehr höflich – und äußern keinerlei Zweifel an der revolutionären Geschichte ihres Landes. „Wir haben eine Idee, wie wir zu einer besseren Welt kommen“
AUS PJÖNGJANG JEANNETTE GODDAR
Selten hatte man sich so gefreut, einem Menschen zu begegnen. Das Fluggerät, eine Iljuschin 62, hätte in der Europäischen Union aus Sicherheitsgründen nirgends landen dürfen. Der Zöllner kontrolliert die Kamera, fragt, ob man Bücher importiere und ob man ein Mobiltelefon besitze. Letzteres konfisziert er prompt und tauscht es gegen einen handgeschriebenen Zettel ein. Willkommen in Nordkorea.
Und dann steht da Herr Ri, schwarze Hose, blütenweißes Hemd, mit blitzenden Augen und einem Lächeln, das der klassisch asiatischen Zurückhaltung erstaunlich unähnlich ist. „Herzlich willkommen, hatten Sie eine gute Reise? Wir werden in der nächsten Woche für Sie da sein.“ Das ist eine Untertreibung. Wenn Nordkoreaner sagen: „Ich bin für Sie da!“ – dann bedeutet das: „Ich weiche Ihnen nur im Schlaf von der Seite.“ Jeder Besucher des abgeschotteten Reiches des verstorbenen Kim Il Sung – Sohn Kim Jong Il spielt bestenfalls eine Nebenrolle – bekommt zwei Reiseführer des Außenministeriums an die Seite. Nur so können sie auf die Eingereisten aufpassen – und zugleich aufeinander.
Herr Ri ist Praktikant des staatlichen Reisebüros. Seit vier Jahren lernt er Deutsch an der Kim-Il-Sung-Universität in Pjöngjang, an der einzigen Germanistikfakultät des Landes. Seine Professoren, sämtlich in der DDR ausgebildet, standen bis Ende der 80er in engem Austausch mit der Humboldt-Universität Berlin. Herr Ri allerdings wurde beim Fall des Eisernen Vorhangs noch im Kinderpalast betreut. Sein Deutsch ist so fließend, dass man ihn täglich fragt, warum. Er hätte ganz hervorragende Lehrer, strahlt er immer wieder, auch die DAAD-Lektoren leisteten Großes. War er nie in Deutschland? Nein, sagt er.
Folge dem Großen Führer!
Fest steht: Der 24-jährige Deutschstudent ist über alles informiert. Über die deutsche Wiedervereinigung genauso wie die EU-Osterweiterung, er interessiert sich auch brennend für die Debatte über Zuwanderung. Der junge Mann sprüht vor Flexibilität – solange man gedanklich im Ausland bleibt. Seine Treue aber zu dem skurrilen, monotheistisch auf einen Verstorbenen ausgerichteten Regime kommt zu keiner Zeit ins Wanken. Auch außerhalb von Abhörgeräten oder alleine mit ihm am Ufer des Flusses Tädong – er lässt nicht den leisesten Zweifel an seiner Solidarität. Ja, er würde gern für eine internationale Organisation arbeiten und sein Sprachtalent nutzen. Nein, als einfacher Dolmetscher fühle er sich unterfordert. Er wolle helfen, die Demokratische Volksrepublik Korea zu stabilisieren, vielleicht im Diplomatischen Dienst. Ein Land ohne Meinungs-, Presse- oder irgendeine andere Freiheit? „Wir haben eine Idee“, bemerkt er dann, „wie wir zu einer besseren Welt kommen. Um das zu erreichen, haben wir uns Regeln gegeben. Eigentlich ist das wie Verkehrsregeln, für die wir uns selber entschieden haben. Sie machen unser Leben praktischer.“
Die Chancen, sein Ziel zu erreichen, stehen gut: In kleinen Schritten öffnet sich Nordkorea zurzeit der Welt. Und Ri ist einer von 50 Germanistikstudierenden im Land mit fabelhaften Studienbedingungen. Einerseits.
Andererseits kennt er vieles nicht: Grass und Walser stehen weder im Lehrplan noch in den Regalen der drei Millionen Bücher umfassenden Nationalbibliothek. Zurzeit, sagt er, werde Lessings Emilia Galotti behandelt; auch deutsche Filme hätten sie neulich analysiert: das Nazi-Erziehungsanstalten-Werk „Napola“ und „Die letzten Tage der Sophie Scholl“.
Ri ist der Beste in seinem Jahrgang. Das sagt der einzige Deutsche, der an einer nordkoreanischen Universität unterrichtet: der DAAD-Lektor Armin Herdegen. Vor eineinhalb Jahren ließ er sich vom Deutschen Akademischen Austauschdienst anwerben. Er wollte wissen, wie es sich in einem so abgeschotteten Land studieren und lehren lasse. Bis zu sechs Stunden pro Woche unterrichtet er nun jeden der vier Studienjahrgänge. Und er ist zuständig für jeden, der das Land aus wissenschaftlichen Gründen für begrenzte Zeit verlassen darf – nach strenger Auslese durch die Kommunistische Partei. Herdegen testet ihr Deutsch, kümmert sich um Visa, vermittelt zwischen Wissenschaftsorganisationen und Pjöngjang. Sprachlich attestiert er den Studierenden hohes Niveau, in Diskursfähigkeit nicht. „Wissenschaftliche Diskussionen sind kaum möglich. Selbstständiges Denken gibt es kaum. Niemand hat gelernt, kritisch zu hinterfragen.“
Wie auch in einem Land, in dem das oberste Bildungsziel von der Krippe an lautet: Folge dem Großen Führer! Nur etwa die Hälfte ihrer Zeit widmen sich die Germanisten an der Kim-Il-Sung-Uni der Germanistik. Die andere Hälfte studieren sie so spannende Dinge wie die Biografie des Großen Führers Kim Il Sung oder Revolutionäre Geschichte. Wochenlanger Ernteeinsatz ist so normal wie Freistellung zum Zwecke des Einübens der Massensportschau Arirang, die zu großen Feiertagen im 1.-Mai-Stadion aufgeführt wird. Am Ende des viereinhalbjährigen Lernens bekommen sie ein Examen, verziert mit der Formel: „Unter der warmen Fürsorge des Großen Führers hat Soundso den Status eines wissenschaftlichen Experten erreicht.“
Bärbel Gutzat ist froh, dass es gleich nach der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und Nordkorea geglückt ist, den DAAD in Nordkorea zu verankern. „Jeder Kontakt zur Außenwelt kann den Menschen nur gut tun“, sagt die Gründerin des DAAD-Lektorats, „jeder Ausländer bringt ein anderes Denken mit. Und das könnte gar nicht dringender benötigt werden.“
Als Gutzat 2001 zum ersten Mal nach Nordkorea reiste, präsentierte sich ihr ein Germanistikstudiengang, der seit dem Zusammenbruch der DDR überhaupt keine Kontakte nach Deutschland hatte. „Die Regierung wollte unbedingt den Anschluss an die internationale Wissenschaft“, erinnert sie sich, „und vor allem wollten sie Stipendiaten ins Ausland bringen.“ Weil dazu grundsätzlich ein Lektor vor Ort gehört, konnte Bärbel Gutzat die zweite große akademische Mission ihres Lebens starten: Fast 25 Jahre nachdem sie das DAAD-Lektorat im – damals – streng sozialistischen Peking aufgebaut hatte, zog sie für dreieinhalb Jahre nach Pjöngjang.
Ungleiche Tandems
Schwierig gestaltete sich manches, etwa wer ein kompetenter Stipendiat ist. Nordkoreaner dürfen grundsätzlich nur zu zweit das Land verlassen, und sie müssen sich an derselben Universität aufhalten. Immer wieder wurden ihr Teams vorgestellt, in denen der eine genügend wissenschaftliche Qualifikationen und Sprachkenntnisse mitbrachte, der andere nicht. „Oft war es sehr schwierig, für unterschiedliche und spezialisierte Forschungsvorhaben wissenschaftliche Betreuer an der gleichen deutschen Hochschule zu finden.“
Die Tandem-Praxis führt häufig zu Konflikten: „Schon wenn nur der eine zum Geburtstag des Professors eingeladen wird, haben sie den Salat“, sagt Gutzat, „alleine dürfen sie nicht gehen – und einfach einen mitzubringen verbietet die Höflichkeit.“ Dass das Ausmaß der Kontrolle, die die nordkoreanische Regierung über ihre Stipendiaten ausübt, enorm ist, ist unzweifelhaft – wie groß es ist, entzieht sich, wie so vieles, der Kenntnis internationaler Beobachter.
Die wenigen Deutschen in Pjöngjang – das sind im Wesentlichen Mitarbeiter der Welthungerhilfe und der Vereinten Nationen, der Deutschen Botschaft, des Goethe-Instituts und des DAAD – arbeiten unter ständiger Bewachung. Streng abgeschirmt leben sie im Botschaftsviertel, für gewöhnliche Nordkoreaner ein Tabu. Jeder Deutsche hat einen „Counterpart“, der mit ihm arbeitet und ihn auch unter Kontrolle hat. Armin Herdegens Counterpart ist ein nordkoreanischer Professor – ein guter Kollege, wie er sagt, aber eben auch der, der über ihn Bericht erstattet. Herdegen ist an der Universität ins Kollegium voll integriert ist, private Kontakte gibt es nicht. Er hat noch nie eine nordkoreanische Wohnung von innen gesehen, weiß nicht, wie seine Kollegen leben, ob sie in den 22. Stock zu Fuß gehen und ob es in den Plattenbauten Fahrstühle gibt.
Jede Vorlesung folgt strikten Regeln. Die Versuchung, den Lehrplan zu unterlaufen, ist enorm. Eine unangemeldete Stunde zu „Sprachlichen Merkmalen des Totalitarismus“ ist für Bärbel Gutzat ein Höhepunkt. „Da wurden die meisten ganz still“, sagt sie, „es konnte ihnen kaum entgehen, wie nah ihre Führerkultrhetorik der Sprache der Nationalsozialisten ist.“ Inwieweit auch nur ein einziger Studierender dadurch beeinflusst worden ist, steht in den Sternen: Sichtbare oder auch nur hörbare Opposition gibt es in Nordkorea nicht. Schon die Frage sei falsch gestellt, sagt Armin Herdegen, „Opposition setzt voraus, dass es mehr als eine Meinung gibt. Es gibt aber nur eine.“