Archiv aus Stein

Nur im liberalen Altona konnten im 17. Jahrhundert Juden aus Ost und West Land für ihre Toten erwerben. Heute gilt der jüdische Friedhof Königstraße als eines der bedeutendsten Zeugnisse jüdischen Lebens. Seit kurzem ist er für die Öffentlichkeit wieder zugänglich

Kriege und „Drittes Reich“ setzten den Steinen weniger zu, als Luftverschmutzung, Vandalismus und Vernachlässigung

VON RALF LORENZEN

„Im Straßenlärm versunken und verloren … traumtief verschattet, weltfern, allein“ – so wie Martin Sternschein den jüdischen Friedhof 1935 besungen hat, nehmen Passanten diesen von hohen Zäunen begrenzten Ort an der Königstraße in Hamburg-Altona noch heute wahr. Wer sich nicht mit einem schüchternen Blick auf die Grabkunstwerke aus drei Jahrhunderten zufrieden gab, musste bis vor kurzem auf eine der offiziellen Führungen warten. So sind ganze Generationen von Fußgängern über die Große Bergstraße zum St. Pauli-Kiez gezogen, ohne zu wissen, dass rechts von ihnen eines der weltweit bedeutendsten Zeugnisse jüdischen Lebens liegt.

„Ich habe mich in diesen Ort verliebt“, sagt Michael Studemund-Halévy und guckt dabei so glücklich, dass man sich über diese Aussage nicht im Geringsten wundert. Ruhelos und euphorisch führt er die Besucher zu den Grabstellen der Angehörigen berühmter Familien – wie Heine, Guggenheim, Mendelssohn und Warburg – oder bekannter Rabbiner und Gelehrten, übersetzt Inschriften und erklärt Symbole, frohlockt plötzlich, dass er etwas Neues entdeckt hat. „Ich erfahre bei jedem Besuch mehr“, sagt er. Dabei kennt niemand diesen Ort so genau wie der Sprachwissenschaftler, der ihn seit Jahren wissenschaftlich erforscht.

Studemund-Halévy gehört zu einer Projektgruppe, die die gut 6.600 erhalten gebliebenen Steine entziffert, übersetzt und katalogisiert hat. Restauratoren und Natursteinexperten haben die zum Teil erheblich zerstörten Steine freigelegt, konserviert und aufgerichtet. Durchaus erstaunlich: Nazi-Zeit und Krieg setzten ihnen in der Vergangenheit weniger zu als Luftverschmutzung, Vandalismus und Vernachlässigung.

Mit der Einweihung des neuen Eingangsgebäudes durch die Stiftung Denkmalpflege ist der Friedhof nun auch für die Öffentlichkeit wieder zugänglich – zu bestimmten Zeiten. Das Häuschen ist nach Eduard Duckesz benannt, dem 1944 ermordeten Rabbiner, der mit seinen genealogischen Forschungen und Fotodokumentationen wichtige Vorarbeiten geleistet hat. Aus dem Panorama-Fenster des Vortragsraums ist die zweigeteilte Struktur der Anlage zu erkennen: Eigentlich handelt es sich um zwei Friedhöfe, die früher durch eine Mauer getrennt waren. Auf dem rechten Feld mit aufrechten Steinreihen haben die als Aschkenasen bezeichneten deutschen Juden ihre Toten bestattet. Auf der kleineren Fläche links, mit liegenden Grabplatten, Sarkophagen und Marmorgräbern, ruhen die von der Iberischen Halbinsel stammenden Sefarden.

„So richtig gemocht haben sich die beiden Gruppen nicht“, sagt Studemund-Halévy. Nur im liberaleren Altona indes gelang es beiden, ein Stück Land zu erwerben, auf dem ihre Toten auf Ewigkeit ruhen konnten. Die weltgewandten portugiesischen Großkaufleute, die 1611 ihren Friedhof erwarben, gehörten zu den zwangsgetauften Juden, die im 16. und 17. Jahrhundert von der Inquisition nach Amsterdam und Hamburg vertrieben wurden, wo sie Handel mit den portugiesischen Kolonien in Amerika und Asien trieben.

Die orthodoxen, traditionell-religiös gebildeten Aschkenasen spielten dagegen als Gelehrte, Pfandleiher und Kleinhändler wirtschaftlich eine untergeordnete Rolle. Weil es ihnen im benachbarten Hamburg nicht erlaubt war, Gemeinden zu gründen, zogen die meisten nach Altona, wo sie 1616 einen Teil des Friedhofs erwarben und später durch Zukäufe beträchtlich erweiterten.

„Für mich ist das hier eine Bibliothek im Freien“, sagt Michael Studemund-Halévy beim Rundgang und führt die Besucher mühelos zum Beginn des 17. Jahrhunderts zurück. Von den Steinen liest er die unterschiedlichen Lebenswelten der hier Begrabenen wort- und bildreich ab. Die aufrechten Steine der deutschen Juden sind fast ausschließlich hebräisch beschriftet und mit nüchterner Ikonografie ausgestattet. Dagegen entfaltet sich auf den sefardischen Grabplatten und Sarkophagen, aus kostbaren Materialien wie Basalt und Carrara-Marmor hergestellt, ein reiches Bildprogramm aus figürlichen Szenen, Wappen und Ornamenten.

„Hier liegt die Grandezza neben den frommen Armen“, sagt Studemund-Halévy. Mit seinen Kollegen hat er bei der Unesco beantragt, den 1869 geschlossenen und 1960 unter Denkmalschutz gestellten Friedhof gemeinsam mit den jüdischen Begräbnisstätten von Ouderdiek (Amsterdam) und Curaçao ins Weltkulturerbe aufzunehmen. „Etliche Familien sind über alle drei Friedhöfe verstreut.“

Wer die Grabsteine und Steinbruchstücke des aschkenasischen Teils in Ruhe studieren möchte, ist übrigens nicht mehr auf Öffnungszeiten angewiesen, sondern kann jederzeit die Internetseiten des Duisburger Salomon Ludwig Steinheim-Instituts (www.steinheim-institut.de) besuchen, wo jeder Stein bebildert, übersetzt und kommentiert ist. Den unverwüsteten Zauber des Friedhofs, auf dem sich über die Jahrhunderte auch prächtige Birken und putzmuntere Eichhörnchen ihren Platz erobert haben, wird er dort allerdings nicht finden.

Oktober–März ist der Friedhof Königsstraße dienstags, donnerstags und sonntags 14–17 Uhr geöffnet, von April–September dienstags und donnerstags 15–18 Uhr sowie sonntags 14–17 Uhr. Führungen: sonntags, 12 Uhr, außer an gesetzlichen und jüdischen Feiertagen