Aufbauen, spielen, abbauen

150 Gruppen, 3 Spielorte, 4 Tage. Die freie Theaterszene präsentierte sich am Wochenende beim fünften „100 Grad“- Festival charmant, engagiert und lebendig. Ein gewisser Trashfaktor der Stücke ließ sich allerdings nicht übersehen

VON PATRICIA HECHT

Ungefähr zwischen Stück fünf und sechs treffe ich eine Bekannte, die ein ganz anderes Festival zu sehen scheint. Sie hat kein einziges der Stücke gesehen, die ich mir angeschaut habe. Das ist typisch für „100 Grad“, den viertägigen Theater-Marathon der Berliner Off-Szene: 150 Gruppen und Künstler nehmen teil, Überangebot ist Prinzip. Je Stunde gibt es sechs bis zehn parallele Vorstellungen im HAU, in den Sophiensælen und im Theaterdiscounter. Karten für einzelne Stücke kann man nicht kaufen. Also wird konsumiert.

Konsum ohne Netz und doppelten Boden: Bis auf einige Schwergewichte wie Hans-Werner Kroesinger (diesmal mit einem Hörspiel vertreten), Das Helmi mit Bernadette LaHengst oder Friedrich Liechtenstein muss die Auswahl anhand knapper Beschreibungen getroffen werden. Manchmal macht eine hübsche Formulierung Lust, manchmal ein Name, manchmal ist unerwartet noch Zeit zwischen zwei Stücken, eine Installation hier oder eine Aktion dort anzusehen.

Das kann natürlich schiefgehen, sich in nicht mehr als einer Idee erschöpfen oder in langweiliges Betroffenheitstheater ausarten. Raus, nächstes Stück. Mit etwas Glück findet man sich dann beispielsweise bei Verena Unbehaun wieder, die in „Ein Fessel Buntes“ den Grand Prix der Volksmusik persifliert. Als menschelnde Moderatorin oder verklemmt-lüsterne Sängerin gibt sie eine wunderbar absurde One-Woman-Show mit hohem Trashfaktor, Motto: „Aus mir rinnt gerade ein Volkslied heraus.“

Die Qualitätsunterschiede sind vorprogrammiert: das „100 Grad“-Festival wird nicht kuratiert. Einziges Kriterium ist das Einhalten der Zeitvorgaben: eine halbe Stunde Aufbau, maximal eine Stunde Vorstellung, eine halbe Stunde Abbau. Angenommen werden die Bewerbungen, die zuerst eingehen. „Das zeigt eben, wie die Szene gestrickt ist in Berlin“, sagt Franziska Werner, Projektleiterin der „100 Grad“ in den Sophiensælen, „sowohl was die Qualität als auch was die Bandbreite der Formate angeht“. Sprechtheater, Installationen, Performances, Musiktheater – alles ist vertreten. Mehrere Woyzecks und Don Quichotes, drei Seniorentheatergruppen und einige Stadtteilproduktionen wie die des Heimathafens Neukölln sind dabei.

Ein thematischer Schwerpunkt bleibt wie schon in den Jahren zuvor die Reflexion der eigenen Arbeitsbedingungen. Bei der Eröffnungsshow „Drifting Underground“ in den Sophiensælen geht es um Boheme und kreatives Präkariat in Vergangenheit und Gegenwart. In einem Bühnenbild irgendwo zwischen Western und Jahrmarkt um 1900 und mit liebevoll gestalteten Kostümen und Requisiten treten Dragqueens und Mumien auf, denen ein frankensteinartiger Pharma-Doc eine Kreativitätsdroge verkaufen will. Sein Problem: „Jetzt sind wir nach Berlin gezogen, da müssen wir uns erst mal als Subkultur inszenieren.“ Humor, Selbstironie und auch hier wieder ein hoher Trashfaktor scheint vielen Produktionen des Festivals eigen zu sein.

Das „100 Grad“-Festival findet zum fünften Mal statt und hat sich als Plattform des freien Nachwuchses etabliert. Man schaut, wer sonst so in der Szene unterwegs ist, tauscht sich aus und nimmt den Beratungsservice wahr, bei dem Vertreter der wichtigsten Förderinstitutionen genauso wie etablierte Gruppen für Gespräche gebucht werden können – und ausgebucht sind. Die Namen der Berater lesen sich wie ein Who’s who der professionellen freien Szene: Kulturstiftung des Bundes, Fonds Darstellender Künste, She She Pop, Rimini Protokoll, Dorky Park. „Die freie Szene sind diejenigen Gruppen, die Häusern wie dem HAU oder den Sophiensælen vorgeschaltet sind“, sagt Juliane Männel, Projektleiterin der „100 Grad“ beim HAU. „Deshalb sind auch die Leute da, die an den wichtigen Punkten arbeiten.“

Manche Gruppen wollen sich den Professionellen präsentieren, andere genießen es einfach, vor größerem Publikum aufzutreten. Manche arbeiten mit einfachsten Mitteln wie Klebeband, mit dem sie einen Quadratmeter Boden markieren und eine Stunde lang genau dort spielen, andere mit Beamer und Leinwand. Es geht weniger darum, künstlerische Maßstäbe zu setzen, als sich charmant, engagiert und lebendig zu zeigen. So wie eine der Don-Quijote-Produktionen, bei der ein schwerhöriger Sancho Pansa aus der Ex-DDR und ein trauriger Schauspieler von „No Budget zu Burgen, Sperrmüll zu Schlössern“ träumen und eine ziemlich existenzielle Männerfreundschaft eingehen. Oder wie Andreas Liebermann, der in einer interaktiven Performance die Zuschauer Fragen zu ihren Fehlern beantworten lässt: „Woran erkennen Sie, dass andere einen Fehler gemacht haben?“ – „Stille, Fremdschämen, Viruswarnung“. „Welche Fehler machen Sie absichtlich immer wieder?“ – „Namen vergessen, Affären eingehen“. Die Fehler werden mit Kreide aufgeschrieben, ausgewischt, und Liebermann bastelt daraus ein Läuterungsobjekt.

Ganz zum Schluss noch beim Klassikerautomaten vorbeigeschaut: eine zwei Meter hohe Box mit Tür, ein Schlitz zum Münzeinwurf und „zwei bis zehn Sekunden“ Dramen-Essenz. Jemand bestellt den „Menschenfeind“. Die Tür geht auf, ein Mann schaut raus, die Tür wird zugeworfen.