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Archiv-Artikel

ortstermin: „Betrunkene Autoren lesen vor“ „Betatsch’ mich“ bei 1,4 Promille

In der Reihe „Ortstermin“ besuchen AutorInnen der taz nord ausgewählte Schauplätze am Rande des Nachrichtenstroms

Bei der Veranstaltung im vergangenen Jahr wurde ein Autor in die Notaufnahme eingeliefert. Aber eigentlich sei das Ganze „eine Riesen-Gaudi mit Präventionscharakter“, sagt Gunter Gerlach. Einmal im Jahr organisiert der Hamburger Schriftsteller gemeinsam mit der Kurverwaltung St. Pauli einen literarischen Abend mit dem programmatischen Titel „Betrunkene Autoren lesen vor“.

Das Konzept ist simpel: die neun Autoren lesen ohne Honorar, den Alkohol gibt es für sie gratis. Einmal pro Runde werden die Promillewerte von „Krankenschwester“ Mark gemessen und auf einer Tabelle notiert, die gut sichtbar links neben der Bühne hängt. Der Erlös des Abends kommt dem Kurverein St. Pauli zugute, der damit kulturelle Projekte finanzieren will.

Während an der Theke des Indra – hier traten in besseren Zeiten mal die Beatles auf – noch reger Betrieb herrscht, steigen die ersten Autoren auf die Bühne. Benjamin Maack liest an diesem Abend wie die meisten seiner Kollegen aus Erzählungen, je eine Doppelseite ohne störenden Kontext. Das Publikum johlt und klatscht: Jugendliche Kulturschickeria zwischen zwanzig und dreißig, Rock-über-Hose-Frauen mit großen Ohrringen, Jungmänner in Hemd und Turnschuhen.

Wiebke Lorenz geht mit 1,53 Promille an den Start. Ein Messfehler, wie sich später herausstellt, in der zweiten Runde hat sie nur noch 0,93 Promille, während Michael Weins nach zwei Bieren erst auf 0,22 Promille kommt. Die literarische Qualität der Texte schwankt; der Anspruch, Literatur als Event zu verkaufen und so neues Publikum zu gewinnen, scheint allerdings aufzugehen: „Ich gehe sonst nie zu Lesungen, aber das hier zieht mich irgendwie an“, sagt ein Gast. „Auch wenn viele der Texte ein bisschen flach sind.“

„Die Hamburger Literaturszene ist auf Sensation und Witz fixiert“, sagt Xochil A. Schütz, die als einzige an diesem Abend weitgehend nüchtern bleibt. Sie will bald nach Berlin ziehen, um sich wieder ernsthafter mit Poesie zu beschäftigen, hier in Hamburg schreibe sie nur Slamtexte. „Ich finde Gunters Konzept sehr ambivalent“, sagt sie, „aber die anderen trinken wirklich gerne, denen macht das Spaß.“

Nach der ersten Runde sind Lärm- und Alkoholpegel im Indra erheblich gestiegen. Michael Weins und Markus Wiese geben mit 1,4 Promille den Song „Betatsch’ mich“ zum Besten, eine Discoversion von „Touch me“, und ernten dafür viel Applaus. Das Publikum unterhält sich mittlerweile aber auch ganz gern untereinander und auch die Kollegen auf der Bühne reden lieber, als dass sie zuhören.

Benjamin Maack erzählt beim zweiten Auftritt einige Orgasmus-Anekdoten. Seinen Text kann er inzwischen schon nicht mehr ganz flüssig lesen, aber „bei dieser Veranstaltung habe ich wenigstens manchmal das Gefühl, meine Texte hätten Bedeutung“.

Kurz vor Mitternacht lehrt sich das Indra. „Dass die den Alkoholkonsum so pubertär abfeiern, finde ich echt daneben“, sagt ein Mädchen beim Rausgehen. „Um Literatur geht es hier doch gar nicht mehr.“ „Um Literatur? Nee“, sagt Benjamin Maack und lässt den Kopf gleich wieder fallen. „Was denkst du denn, warum ich hier nur Doppelseiten vorlese?“ ANNA-LENA WOLFF