Berliner Platten : You Pretty Thing kennen den internationalen Standard, wollen es gar nicht originell und haben vielleicht deshalb das Zeug zum Hit (plus etwas Folk von Kam:As)
Es gibt ein Missverständnis, das in der neueren populären Musik grassiert. Ein Missverständnis, das zunehmend unangenehme Ergebnisse hervorbringt. Das Missverständnis besteht darin, dass altgediente Musikanten, die noch mit rein instrumentaler Klangerzeugung aufgewachsen sind, nun glauben, Modernisierung gelänge allein schon durch den Einsatz technisch zeitgemäßerer Hilfsmittel wie Sampler und Pro-Tools. Natürlich musste die klassische Rockmusik irgendwann die Digitalisierung anerkennen. Das klang, bei The Notwist zum Beispiel, bisweilen auch sehr überzeugend.
Was geschehen kann, wenn gelernte Facharbeiter versuchen elektronische Musik zu fertigen, das führen You Pretty Thing vor Ohren. Das Duo, das bereits bei dem verblichenen One-Hit-Wonder The Other Ones gemeinsam musiziert hatte, orientiert sich auf seinem ersten Album „Tune In“ an den Vorgaben des Mainstream-Rockpop, versucht diesen aber mit Frequenzer-Geflatter und pumpendem Computerbass aufzupeppen. Mancher Song hat womöglich sogar das Zeug zum Hit und grundsätzlich ist das alles solide durchmusiziert: Man merkt, dass sowohl Andreas „Blacky“ Schwarz-Ruszcynski als auch die gebürtige Australierin Jayney Klimek renommierte Studiomusiker sind, die schon für Trevor Horn, die Pet Shop Boys, Tangerine Dream oder Paul van Dyk gearbeitet haben. Das ist aber auch das Problem: Vor lauter internationalem Standard und solidem Handwerk fehlen ihnen der Mut und wohl auch die eigenen Ideen, der sowohl originale wie auch originelle Ansatz, der „Tune In“ hervorheben könnte aus der massenkompatiblen Einheitsware.
Dass man weniger an den Werkzeugen, sondern eher an den Strukturen werkeln muss, um zeitgemäße Rockmusik zu produzieren, demonstriert nun schon einige Jahre das Umfeld des Labels Sinnbus. Dort entstehen, sanft brodelnd im eigenen Saft einer streng freundschaftlich organisierten Szene, immer neue Entwürfe, die die Vergangenheit anerkennen, sie bewusst zitieren und auf dieser Grundlage an Neuem forschen.
Kam:As allerdings gehören eher zu den rückwärtsgewandteren Verpflichtungen der Kleinfirma. Auf „Panic Among Whales“, dem Debüt des Berliner Quartetts, werden vorsichtig akustische Gitarren gezupft, das Klavier wohl temperiert angeschlagen und ohne Hektik Orgeltasten gedrückt. Den sonst von Sinnbus gewohnten Postpostrock sucht man vergebens, stattdessen ist Kam:As – trotz ihres flotten Namens – ein nahezu klassisches Folk-Album gelungen, mit weitgehend verträumten Songs, die sich nur selten zu einem mittelschnellen Tempo bequemen. Kein Wunder, wurden sie doch eingespielt und aufgenommen in einem von einem Ofen beheizten Wohnzimmer kurz vor Weihnachten.
Highlight ist „Dogwalker“, eine rumpelnde Tom-Waits-Hommage mit deutlichen parodistischen Zügen und einem kleinen Raucherhustenanfall. Und eins immerhin ist überaus modern auch an Kam:As: „Panic Among Whales“ wird ausschließlich digital als Netrelease veröffentlicht. THOMAS WINKLER
You Pretty Thing: „Tune In“ (Bon Voyage/SPV), Release Party heute im Mudd Club, 21 Uhr
Kam:As: „Panic Among Whales“ (Sinnbus)