: Der Ratzinger-Effekt
Jürgen Habermas, den Pontifex maximus der Aufklärung, hat er schon für sich eingenommen. Seinen Kampf gegen den „Werterelativismus“ finden auch liberale Geister gut. Warum man Papst Benedikt XVI. aber nicht auf den Leim gehen sollte
VON ROBERT MISIK
Ende Januar 2004 fand in der Katholischen Akademie München eine Begegnung statt, die Europas Intellektuelle zugleich verstörte wie elektrisierte. Jürgen Habermas, gewissermaßen der Pontifex maximus der linksliberalen Kritischen Theorie und damit oberster Aufklärer Deutschlands, traf in der kontemplativen Atmosphäre mit Joseph Kardinal Ratzinger, damals Präfekt der römischen Glaubenskongregation, zusammen. Es war eine beinahe konspirative Begegnung. Auf der einen Seite der Kardinal, der schlichtweg meint, dass die religiösen Ethiken die Welt zusammenhalten; auf der anderen Seite der Philosoph, für den „rechtsstaatliche Demokratie und säkulare Vernunft durchaus in der Lage sind, ihre Normativität aus sich selbst zu schöpfen, ohne eine ‚Absicherung‘ durch religiöse Überlieferung“.
Was Habermas an dem Gespräch mit dem Kardinal offensichtlich reizte, ist das, was er seither bei vielen Gelegenheiten die „entgleisende Säkularisierung“ nennt. Weil etwa der modernen Medizin sehr viel möglich ist, der moralische Konsens darüber, was getan werden darf und was nicht, aber im Schwinden begriffen ist, sieht Habermas die Gefahr der Dominanz „naturalistischer Weltbilder“ – dass einfach getan wird, was machbar ist, und man den Menschen nur noch als Mischmasch aus Genen und biochemischen Reaktionen sieht. Dem gegenüber seien die Religionen wichtige Ressourcen, moralische Fragen an die Wissenschaften zu richten.
In seinem Dialog mit Ratzinger erinnerte Habermas an ein zweites Defizit der zeitgenössischen „postsäkularen Gesellschaften“. Habermas: „Eine entgleisende Modernisierung der Gesellschaft im Ganzen könnte das demokratische Band mürbe machen.“ Etwas salopp gesagt, meint Habermas: Wenn so viel drunter und drüber geht wie im beschleunigten Turbokapitalismus, dann kann vielleicht die Religion doch helfen, das Ganze zusammenzuhalten.
Beim ultrakonservativen Kardinal rannte er damit natürlich offene Türen ein.
Denn das passte irgendwie zu dem Kampf, den der Kardinal seit Jahren kämpft und den er, ins Papstamt gewählt, ins Zentrum seines Pontifikats stellen wollte – den Kampf gegen den „Werterelativismus“. Im Kampf gegen den verderblichen Relativismus, da kennt er nichts, der Ratzinger, auch wenn er sich als Papst noch einmal neu erfunden hat, ja geradezu liebenswert wirkt auf manche. Joseph Ratzinger präsentiert sich als Benedikt XVI. als Kirchenführer, „der ganz anders ist“, wie der Theologe, Journalist und Papstbiograf Stephan Kulle formulierte. Kulles erstaunliches Resümee: „Benedikt XVI. ist die Antwort Gottes auf die Achtundsechzigerbewegung.“
Joseph Ratzinger, der Sohn eines bayrischen Gendarmen – eine Art klappriger Rudi Dutschke in Soutane? Ein bisschen absurd ist der Vergleich. Aber irgendetwas an der Faszination, die der Papst auf bestimmte, auch kirchenferne Kreise ausübt, ist, das spürt Kulle richtig, im Wortsinn merkwürdig und lässt sich mit den rebellischen Energien der Achtundsechziger vergleichen. So erklärte Ratzinger in einem Interview, früher sei er ein eifriger Leser von Romanen gewesen. Päpstlicher Nachsatz: „Mein Lieblingsbuch von Hesse ist ‚Der Steppenwolf‘.“
Man konnte da schon etwas ins Staunen kommen. Hesses Romantraktat über die Niedrigkeiten der bürgerlichen Welt, darüber, wie der wirkliche Mensch vom „Scheinmenschen“, vom Bürger, „erdrückt und gefangen gehalten“ werde, dieses frühe egoexistenzialistische Manifest: eines von Ratzingers Lieblingsbüchern? Dieses „Gegen den Mainstream“-Pamphlet, formuliert mitten im 20. Jahrhundert? Vielleicht sagt das auch etwas darüber aus, wie der Papst die Machtinstitution Kirche, der er vorsteht, in der Welt positionieren möchte.
In der neuen politischen Theologie der Kirche nach Ratzingers Geschmack stellt sich die Sache jedenfalls so dar: 1968, da waren wir Mainstream, die Leidenschaften lagen bei den linken Rebellen. Heute ist es Gott sei Dank umgekehrt. Die Achtundsechziger, sagt Wiens Kardinal Christoph Schönborn, „sind zum Mainstream geworden. Die Kirche ist heute in der guten Situation, nicht Mainstream zu sein. Sie kann den Einspruch formulieren und sagen: Schwimmt nicht mit dem Strom, schwimmt gegen den Strom. Baut eine alternative Kirche auf.“ Der Konservativismus als Alternativkirche! Man muss sich das auf der Zunge zergehen lassen.
Die päpstliche Kritik an der Moderne und die Einwände gegen eine rationalistisch verkürzte Vernunft finden selbst bei postmodernen Philosophen ein offenes Ohr. Papst Benedikt XVI. weiß, dass er seiner Kirche neuen Einfluss verschaffen kann, wenn er auf dieser Klaviatur spielt. Der Einspruch gegen den Werterelativismus der Moderne ist, so versucht es die neue Kirchenideologie darzustellen, die wahre Radikalität und der Königsweg zur Freiheit – gegen die Totalität des „Anything goes“ gewissermaßen.
Klingt nicht unsympathisch. Aber in dieser „Freiheit“ steckt immer noch ein großes Stück Gängelung, und das wird gerne unter den Tisch gekehrt. Denn auf „ein Element des Fundamentalismus“ (Paolo Flores d’Arcais) verzichtet die römische Kirche auch heute nicht. Sie ist nur eine Macht, aber „nicht von dieser Welt“, wenn es ihr in den Kram passt. Bei anderen Gelegenheiten versucht sie, auf dem Gesetzesweg allen, auch den Nichtchristen, moralische Vorstellungen aufzuzwingen, die nur den katholischen Gläubigen eigen sind. Aber daran wird nur ungern erinnert: dass sich der Papst nur deshalb als nonkonformistische Figur inszenieren kann, weil der modernen Gesellschaft Gott sei Dank der bigotte Konformismus ausgetrieben wurde.
Schon während der Eucharistiefeier, die das Konklave eröffnet hatte, aus dem er dann als Papst hervorging, wandte sich Ratzinger gegen „eine ‚Diktatur des Relativismus‘“. Der Papst ist geradezu besessen von seiner Idee, sogenannter Relativismus zerstöre die Welt. Relativismus ist ihm eine Schmähvokabel, der Fehltritt schlechthin, vergleichbar mit dem, was zu früheren Zeiten etwa Kommunisten gleich welcher Spielart „Abweichlertum“ oder „Versöhnlertum“ genannt haben.
Seltsamerweise kommt das auch bei einem kritischen Publikum gut an. Das ist oft nicht ohne Komik: Ratzingers Schelte der „Diktatur des Relativismus“ wird auch von Kommentatoren gutgeheißen, die vom Pluralismus der Meinungen leben und die des Kirchenführers tapferen Antiliberalismus natürlich nur so lange originell finden, solange nicht zu befürchten ist, dass daraus etwas Konkretes folgt.
Aber ist dieser Werterelativismus wirklich ein solches Übel, wie es vom Papst dargestellt wird? Der „Werterelativismus“ macht den Menschen das Leben gewiss nicht leichter. Sie haben kein verbindliches Sittengesetz mehr zu Hand. Sie müssen oft schwierige Entscheidungen nach dem eigenen moralischen Empfinden treffen – sicherlich für jeden Einzelnen eine große Herausforderung. Aber gerade deshalb, schreibt Paolo Flores d’Arcais, ist dieser viel gescholtene „Werterelativismus“ auch die „Basis für einen ethischen Pluralismus, ohne den demokratische Gesellschaften nicht existieren können“.
Dass man heute überhaupt so gerne von „Werterelativismus“ spricht, hat seinen Grund wohl nicht in wachsender Unmoral, sondern darin, dass man „mit neuen moralischen Problemen konfrontiert wird und nicht gleich Lösungen weiß, sondern ausgiebig darüber diskutiert und diskutieren muss“ (so der Philosoph Detlef Horster). In dieser komplizierten Welt muss man immer damit zurechtkommen, dass das, was mir richtig erscheint, von anderen ziemlich missbilligt wird und dass Handlungen, die ich unrichtig finde, oft von anderen Menschen aus nachvollziehbaren und sogar respektablen Gründen gesetzt werden. Es ist eine Welt, die viel Taktgefühl verlangt.
Viele wünschen sich, angesichts der Vielzahl widerstrebender Wertvorstellungen, die in jedem von uns miteinander im Streit liegen, so etwas wie eine einfache Matrix, anhand deren feststellbar wäre, was gut und richtig ist. Deswegen findet man es auch bewundernswert, wenn einer aufsteht und sagt, dass dieser Liberalismus, dem alles als gleich gültig gilt, ein Teufelszeug sei, weil dann eben auch alles gleichgültig ist.
Dabei ist bei detaillierter Betrachtung schwer nachzuvollziehen, warum eine bestimmte Haltung Ausdruck von Moral, die andere Indiz von gefährlichem moralischem Relativismus sein soll. Warum ist es Relativismus, wenn man dafür plädiert, mit Hilfe von embryonalen Stammzellen Schwerkranke zu retten, und warum ist es moralisch, die medizinische Wissenschaft in die Schranken zu weisen? Eine christliche Ehe, bis zum Tode nicht geschieden, in der zwischen den Eheleuten und zwischen den Generationen Gefühlskälte herrscht – ist das wirklich die Keimzelle der Moral? Und eine moderne Patchworkfamilie, in der Mann und Frau Kinder aus früheren Partnerschaften großziehen und auch noch mit den einstigen Partnern zu tun haben und in der alle Beteiligten bei allem Stress dennoch versuchen, einander mit Respekt zu begegnen – ist das wirklich ein Kraftwerk des „Relativismus“? Wieso soll die eine Moral moralisch sein, die andere Moral aber relativ?
Ohnehin ist die Sache mit dem Werterelativismus vertrackt. Die Rede vom Relativismus unterstellt nicht nur implizit, dass es einen „Verfall der Werte“, also ein Wachstum der Unmoral, gibt, sondern explizit, dass in einer Welt ohne verbindliches Sittengesetz jeder sich seine eigene Präferenzskala moralischer Regeln aufstellt. Aber das ist ja gar nicht der Fall. Dass wir in den vergangenen Jahrzehnten einen generellen Verfall der gesellschaftlichen Moral erleben, lässt sich wohl schwer behaupten. Eher das Gegenteil. Dass man Konflikte nicht mit Gewalt lösen soll, dass spontane Faustschläge ins Gesicht eines Anderen kein Kavaliersdelikt sind, diese Auffassung ist heute weiter verbreitet als vor vierzig, fünfzig Jahren. Prügel für Kinder galten noch vor wenigen Jahrzehnten als übliche Erziehungsmethode, heute sind sie verpönt, und wer in der Öffentlichkeit seinem Kind eine Ohrfeige verpasst, kann sich zumindest scheeler Blicke von Passanten sicher sein. All das ist keine Privatmoral, die nur auf der Ebene des einzelnen Gewissens gelten würde, sondern eine „objektive Moral“.
Es ist sehr fraglich, ob es überhaupt einen „Werterelativismus“ in dem vom Papst behaupteten Sinn gibt, weil die Menschen der Meinung seien, dass das Gewissen des Einzelnen „das letzte Wort behalten müsste“. Geht man ernsthafter an die Sache heran, erweist sie sich als komplizierter: Es gibt gesellschaftliche moralische Normen, bei denen das Gewissen des Einzelnen mit Sicherheit nicht das letzte Wort hat. Die Pluralität möglicher Gewissensentscheidungen wird in jenen Bereichen geachtet, wo es sich um die mit Recht respektierte Privatsphäre eines Menschen handelt (wenn er dort niemand anders Schaden zufügt), vor allem aber in jenen Fragen, in denen es um komplizierte moralische Abwägungen geht.
Es klingt natürlich schön, wenn der Papst sagt, die Religion sollte angesichts der „Pathologien der Vernunft“ so etwas wie ein „Kontrollorgan“ sein, das Ratschläge erteilt, damit das Schlimmste womöglich vermieden wird. Aber kann man annehmen, dass ein Glaube, der sich so sicher ist, was richtig und was falsch ist, sich mit der bescheidenen Rolle des Korrektivs zufriedengeben wird? Eher ist es so: Er wird der Mahner sein, solange er keine andere Möglichkeit hat, als mahnend sein Wort zu erheben. Gott sei Dank!
ROBERT MISIK, 42 Jahre, ist taz-Autor und begreift sich als Atheist katholischer Prägung. Der Text ist ein gekürzter Auszug aus seinem Buch „Gott behüte! Warum wir die Religion aus der Politik raushalten müssen“ (192 Seiten, 19,95 Euro), das dieser Tage im Wiener Ueberreuter Verlag erscheint