: „Wer Trost sucht, soll Romane lesen“
Dieser Typ! Und diese Tube! Dieser Typ kann nicht mal seine Zahnpasta ordentlich aufräumen! Na, kennen Sie diese Badezimmersituation? Die kann ganz schnell zur Scheidung führen. Der Soziologe Jean-Claude Kaufmann über die kleinen Kriege des Beziehungsalltags, die Krisen als normaler Preis der Freiheit – und warum man seinem Partner nicht alles sagen sollte
JEAN-CLAUDE KAUFMANNGeboren: 12. April 1948 in Rennes. Beruf: Forscht als Soziologe am Centre national de la recherche scientifique der Sorbonne-Universität in Paris. Privat: Verheirat und Vater zweier Kinder. Lebt in Saint-Brieuc, Bretagne. Aktuelles Buch: „Was sich liebt, das nervt sich“. UVK Verlagsgesellschaft, Konstanz 2008. 280 Seiten, 19,90 Euro. Zum taz-Gespräch traf sich Kaufmann mit taz-Redakteur Jan Feddersen im Haus der Agentur Literaturtest. Kaufmann war auf Einladung des Institut Français in Berlin. Vincent von Wroblewsky übersetzte aus dem Französischen.
INTERVIEW JAN FEDDERSEN
taz: Herr Kaufmann, Ihr just auf Deutsch erschienenes Buch „Was sich liebt, das nervt sich“ hat Ihnen den Kommentar eingetragen, ein feministischer Soziologe zu sein. Empfinden Sie dies als Lob?
Jean-Claude Kaufmann: Ich begleite den Feminismus, aber in einer anderen Weise, als Frauen es tun. Ich stehe jedenfalls nicht auf der Seite der Frauen gegen die Männer.
Auf welcher Seite stehen Sie im Geschlechterkampf denn?
Auf keiner. Ich beobachte nur, ich beschreibe, ich versuche herauszufinden, was mit der Liebe geschieht.
Und?
Was ich als Wissenschaftler betone, ist, dass wir es, unabhängig vom Guten oder Schlechten, mit sehr komplexen Mechanismen zu tun haben – gerade in Fragen der Liebe.
Was treibt Sie an, die alltäglichsten Dinge zu ergründen – Themen wie „Schmutzige Wäsche“, die „Singlefrau“ oder die „Kochende Leidenschaft“?
Ein Zufall. Ich bin ursprünglich auf diese kleinen Themen gestoßen, weil sich um sie sonst niemand gekümmert hat. In ihnen habe ich – ich betone: als Wissenschaftler – einen großen Reichtum entdeckt.
Eine Art Marktlücke als Soziologe?
Ja, aber das klingt so simpel. Aber so bequem war und ist das nicht. Weil ich doch zu einem großen Teil unverstanden bin. Ich habe Erfolg beim großen Publikum. Aber wenn man in der Universitätswelt über kleine Themen arbeitet, dann kann man leicht als kleiner Soziologe betrachtet werden.
Weil Sie sich mit Nebensächlichkeiten beschäftigen, über die tüchtige Wissenschaftler sonst nur die Nasen rümpfen?
Die großen Themen der Gesellschaft sind doch solche wie Arbeitslosigkeit, Gerechtigkeit, Macht. Meine Forschungen fallen nicht darunter – ich schaue mir den Alltag an, in all seinen Kleinheiten.
Den täglichen Horror?
Nicht Horror, sondern Glück!
Es soll ein Zufall sein, dass Sie sich für diese Forschungsfelder interessieren? Keine persönliche Betroffenheit?
Privates kann für mich als Wissenschaftler keine Rolle spielen, nicht wahr? Ich habe mich immer gefragt, möglicherweise auch persönlich, woher im Alltag immer all dieser Ärger rührt. Ansonsten habe ich zumindest das Gefühl, dass meine Entscheidung für dieses Forschungsfeld mit Zufall zu tun hat. Und auf das Gefühl kommt es doch immer an, oder?
Der Sozialwissenschaftler Jan Philipp Reemtsma bemerkte einmal, niemand übe seinen Beruf zufällig aus. Jeder tut, was er tut, irgendwie gern.
Das ist möglich. Aber das werde ich nicht für mich persönlich analysieren.
Haben Sie bei Ihren Recherchen über die Liebe eigentlich Ihren eigenen Alltag ein bisschen besser verstehen können?
Ja, mit bestimmten Grenzen. Ich setzte mir jedenfalls Grenzen. Ich untersuche alle Aspekte des Alltagslebens. Beziehung zu Paaren, Beziehungen zu Freunden etc. Wenn meine Frau sich täglich beobachtet fühlen würde oder meine Freunde, wenn ich mit ihnen zusammen esse, dann wäre das die Hölle. Deswegen habe ich, glaube ich, ein wenig die Kunst entwickelt, abzuschalten. Gezwungenermaßen.
Sprechen wir jetzt über die Liebe?
Gern.
Gunter Schmidt, der Hamburger Sexualwissenschaftler, beobachtet seit der Ära von Achtundsechzig eine Veränderung der Paarbeziehungen hin zu einer Verhandlungsmoral. Stimmen Sie ihm zu?
Ich würde nicht von „Verhandlungen“ sprechen, die es in Liebesbeziehungen gibt. Eher über Anpassung, die nicht immer über Verhandlungen läuft. Als Moral mag das Verhandeln eine gewichtigere Rolle spielen, aber im Alltag passen sich Paare oft unbewusst an, um es miteinander aushalten zu können.
Das klingt jetzt sehr freundlich. In Ihrem Buch sprechen Sie hingegen von den „Kleinen Kriegen des Alltags“.
Das ist vielleicht schon wieder zu stark begriffen. Bei einem Paar ist keine kriegerische Absicht vorhanden, erst mal. Aber es gibt ständig kleine Reibungen.
Die erste Verliebtheit – ein Rausch. So erzählen es alle. Wann aber, Ihren Beobachtungen zufolge, gibt es den Punkt, an dem eine Beziehung kippt?
Das lässt sich generell nicht sagen. Es gibt ja verschiedene Ehestile. Manche funktionieren über dieses „Sich-anschnauzen“. Der Punkt, der alles zum Kippen bringt, der ist erreicht, wenn man zu lange braucht, um zu einer Normalität zurückzukommen. Nicht die Krise einer Beziehung ist das Problem, sondern wie man aus ihr wieder herauskommt.
Wie kommt es eigentlich, dass nach einer mächtigen Verliebtheit plötzlich Ärger erwächst? Wie kommt es, dass man sich über die Zahnpasta des anderen im Waschbecken aufregt?
Manche tun das wirklich, andere nie. Ich würde sagen, am Anfang gibt es starke Gefühle. Alles scheint aufgewühlt, dauernd im Wandel. Und dann beruhigt sich das Ganze, man sucht eine gewisse Bequemlichkeit. Ruhe und Entspannung. Wenn diese Wünsche nach Ruhe gestört werden, gibt es Probleme.
Zurück zur Zahnpasta, bitte. Die liegt doch auch schon in der Phase der stärksten Verliebtheit im Waschbecken. Dann aber spielt sie keine Rolle. Warum?
Am ersten Tag sah man die Zahnpasta, die einen später nervt, auch schon, aber ein bisschen von weitem, man ging drüber hinweg in diesem Schwung der ersten Liebe. Wenn sich das Begehren beruhigt, dann können so ein paar Gesten zum Kristallisationspunkt von Ärger werden.
Ist das immer so?
Nein. Ich erzähle Ihnen von einem meiner Fälle. Isabelle war einmal verheiratet, sie ärgerte sich nach Jahren sehr über die Zahnpastatube, die ihr Mann nicht ordentlich wieder verschloss. Sie ließen sich scheiden. In ihrer zweiten Ehe gab es einen Mann, der die Zahnpastatube ebenso händelte wie ihr erster. Aber sie blieb sehr verliebt und lachte über diese Gewohnheit nur.
Können Sie uns diesen Gleichmut erklären?
Wenn die Bewegung der Liebe stärker ist, geht sie darüber hinweg. Es gibt immer zwei konträre Bewegungen. Einmal die der Mechanik der Gesten, die voneinander entfernen, dann aber das Liebesbedürfnis, aufeinander zuzugehen. Und diese zweite Bewegung wischte bei Isabelle die Ärgernisse weg. Oder, besser, überwischte sie.
Die Zahnpasta als Symbol der Abgrenzung, um der Enge der Beziehung zu fliehen?
Alle Themen des Ärgers sind solche der Abgrenzung. Der erste Mann von Isabelle hat sogar bewusst mehr Zahnpasta im Waschbecken hinterlassen, als er mitgekriegt hat, dass sie sich darüber besonders ärgert.
Sie hat sich provozieren lassen.
Tatsächlich. So war die Zahnpasta der offizielle Scheidungsgrund.
Was hätte beiden geholfen?
Vielleicht ein Lachen? Humor kann ein Paar immer vor sich selbst schützen – als Geste der Distanz zum Ärger. Aber wenn nur einer lacht, kann das sehr zerstörerisch sein.
Gefiel Ihnen der amerikanische Film „Der Rosenkrieg“?
Natürlich.
Ein herrliches Schauspiel wachsender Niedertracht, oder?
Ja, wirklich.
Oder war das für Sie ein trauriger Film?
Ich möchte darauf nicht persönlich antworten. Mir geht es nicht um den Willen zur gegenseitigen Zerstörung. Sondern um die Mühe, miteinander auszukommen.
Sie hören so viele Ehegeschichten. Was machen denn so viele Paare falsch?
Das könnte ich sagen, möchte ich aber nicht. Ich zwinge mich, das nicht zu tun. Ich beschreibe nur eine Wirklichkeit, die existiert, nicht einen Wunsch.
Kneifen Sie jetzt?
Nein. Als Forscher will ich nicht in die praktischen Dinge reingehen. Außerdem ist es sehr schwierig, Ratschläge der allgemeinsten Art zu geben. Denn das Leben von jedem ist sehr komplex und sehr reich. Und es ist immer die Person selbst, die eigentlich am besten wissen kann, wie es gelingt oder wie es nur missrät.
Wenigstens eine Grundregel möchten Sie uns anvertrauen?
Man kann seinen Partner nicht grundsätzlich ändern, das ist wichtig zu wissen. Und es ist nicht so sicher, dass man selbst die Wahrheit trägt. Deshalb könnte mein Buch, meine Arbeit auch verstanden werden als ein Aufruf zur Toleranz und zur Neugier. Für ein Akzeptieren und ein „In die Welt des anderen“-Hineintreten. Dass der oder die andere einfach verschieden ist. Mehr kann ich nicht raten.
Kein anderes Rezept?
Nein. Ich versuche nur, immer zu verstehen. Ich bin kein Rassist, aber wenn ich mit einem Rassisten zu tun habe, werde ich versuchen, seine Sichtweise zu begreifen.
Sind eigentlich Ihre Beobachtungen lediglich für die weiße Mehrheit aussagekräftig?
Keineswegs. Die Paare, die wir untersucht haben, kamen über einen allgemeinen Aufruf. Alle Hautfarben waren dabei.
Haben Sie nur heterosexuelle Paare befragt?
Der Aufruf setzte keine Grenzen. Aber in der Tat, wenn man von einem Paar spricht, wird es meist heterosexuell verstanden. Ich bedaure, keine homosexuellen Zeugenaussagen zu haben.
Gilt die Dynamik bei Paaren auch für Homosexuelle?
Wir haben eine Mechanik beobachten können, in der durch ein Paar unterschiedliche Rollen eingenommen werden, das trägt offenbar zur Differenz in der Liebe bei. Das scheint evident bei Mann und Frau. Aber bei homosexuellen Paaren ist es die gleiche Mischung.
Gibt es ein generelles Gesetz gelingender Liebesbeziehungen?
Offenbar ist das Wichtige, dass zwei Individuen zusammenkommen, welche voneinander annehmen, dass sie gleich, aber auch verschieden sind.
Der Soziologe Niklas Luhmann hat einmal vorgeschlagen, es wäre klüger, wenn die Paare nicht alles voneinander wüssten.
Man kann nicht alles wissen, und man muss auch nicht versuchen, alles zu wissen. So sehe ich das. Und man muss auch nicht alles sagen. Man muss auch nicht versuchen, alles zu sagen.
Weshalb denn nicht?
Weil es nicht geht, weil es erschöpft. In allen Zeitschriften lesen wir von Beziehungen und von Modellen, die perfekt funktionieren. Das schafft sehr viel Unglück, denn die Leute gewinnen den Eindruck, dass sie sehr weit weg sind von diesen Modellen. In meinem Buch „Der Morgen danach“ beschreibe ich, wie die Begegnung zweier Menschen stattfindet. Beide, für die heutige Zeit gesprochen, tragen eine Vorstellung von einer vollkommenen Begegnung in sich. Man „erkennt“ sich sofort, es schlägt ein. Und alle, die ich befragt habe, fangen mit diesem etwas eigenartigen Satz an: „Wissen Sie, unsere Geschichte ist ein wenig eine besondere.“ Die arbeiten sich am Modell des Perfekten ab – denn jede Beziehung ist anders.
„Männer und Frauen passen einfach nicht zusammen“, sagte der Humorist Loriot. Einverstanden?
Verallgemeinerungen sind gefährlich. Nach meinen Recherchen stelle ich fest: Es gibt nicht eine Seite der Frauen und eine der Männer. Innerhalb der Beziehungen, aus der Position der Paare, gibt es Gemeinsamkeiten und Unterschiede.
Beispielsweise?
Bei manchen Paaren kann es ein Gefühl von Komplizität, von Komplizenschaft und von Wohlbefinden geben. Alte Paare schätzen einander anders als junge. Was man verstehen muss, ist doch: Es gibt verschiedene Momente – bei allen Paaren.
Finden Sie manchmal nicht auch, dass früher alles einfacher war – Adam und Eva zumindest?
Es war ja nur scheinbar einfacher. Man war getragen. Eingerahmt von Institutionen. Die Frau trat ins Erwachsenenleben durch die Ehe. Das Paar war bis zum Tod verheiratet. Geistig, mental war das komfortabler. Aber man kann nicht zurück in diese Verhältnisse.
Wenn man sich anstrengt?
Ausgeschlossen. Diese Begrenzung der Freiheit, des Ausdrucks der eigenen Persönlichkeit, war bis vor fünfzig Jahren normal. Das moderne Individuum will seine Freiheit, es hat Geschmack an ihr gefunden.
Und der Preis?
Mentales Ermüden und Krisen.
Die Renaissance alter Eheformen ist nicht möglich?
Nein. Man könnte für vierzehn Tage, drei Wochen zurück. So als Urlaub. Als historischer Tourist. Man kann die alten Verhältnisse spielen. Nur das. Mehr ist nicht drin.
Vielen scheint allzu anstrengend, ein modernes Individuum zu sein.
Manchmal gewiss. Um ein Individuum zu werden, muss man Kompetenzen entwickeln. Und ein Paar zu bilden, bedeutet auch Arbeit leisten. Man muss ein Selbst bleiben. Ein Individuum, das sich selbst ausdrückt. Und die Beziehung zum andern entwickeln, ohne zu verschwinden.
Müsste man, um all der Erschöpfung vieler moderner Individuen am Projekt Ehe oder Beziehung zu begegnen, die Möglichkeit der Scheidung wieder abschaffen? Vielleicht haben die Leute zu viel Freiheit?
Es gibt eine gewisse nostalgische Sehnsucht nach dieser frühen Gesellschaft. Aber man kann nicht zurück. Wenn man sich an die Freiheit gewöhnt hat, kann man nicht zurück.
Würden Sie eigentlich empfehlen, eine Beziehung zu haben?
Ich will überhaupt keine Ratschläge erteilen. Denn es gibt einfach kein Modell für alle Beziehungen.
Ein Tipp des Mannes – und nicht des Wissenschaftlers?
Okay. Es kann in verschiedenen Phasen verschiedene Ideale geben. Man kann eine Zeit haben, wo man lieber allein wäre, dann wieder als Paar, dann eine Zeit, in der man eine Familie gern hat. Das Problem ist dann: Wie kann man in den Momenten des Familienlebens ein Individuum bleiben – das ist das drängendste Problem offenbar für viele Männer und Frauen.
Haben Sie einen Trost parat?
Nein. Das ist auch nicht nötig. Wer Trost sucht, soll Romane lesen oder sich Filme angucken. Ich will nicht trösten, ich kann nur sagen, dass das moderne Leben ein ewiges Basteln ist. Wunderrezepte gibt es keine.