Wo andere wegsehen

Yasmina Reza präsentierte im Berliner Ensemble ihr Buch „Frühmorgens, abends oder nachts“. Es handelt vom Kandidaten Sarkozy und der Inszenierung einer politischen Persönlichkeit

Die Unruhe des Tatmenschen erscheint hier als Tod der „Jugend“

VON MANUEL KARASEK

Ein Jahr lang begleitete die erfolgreiche Dramatikerin Yasmina Reza den Kandidaten Nicholas Sarkozy bei seinem Wahlkampf. Nur fünf Monate nach der Wahl erschien ihr Buch in Frankreich, das auf Deutsch den Titel „Frühmorgens, abends oder nachts“ trägt. Es löste bei Medien und Publikum erwartungsgemäß starkes Interesse aus. Da hatte eine namhafte Autorin Zugang zur Bühne der Macht gehabt, von dessen inneren Gesetzen viele meinen, sie seien undurchschaubar. Doch bei der Buchpräsentation im Berliner Ensemble am Sonntagmorgen überraschte die Autorin mit der Aussage, dass sie kein Buch über die Macht geschrieben habe – und somit auch keins über den heutigen Präsidenten Frankreichs, sondern eben über einen Kandidaten.

Mit der Idee, Sarkozy zu porträtieren und dies darüber hinaus literarisch umzusetzen, was zu unterschiedlichen Deutungen einlädt, kommt sie der in demokratischen Gesellschaften immer virulenten Unsicherheit entgegen: Im Zerrspiegel der Medien, heißt es hier ja gerne, sei das „wahre“ Bild prominenter Volksvertreter nicht mehr zu erkennen. Schon vor der Veranstaltung konnte man sich von ihrem wundervollen, ja poetischen Buch bezaubern lassen. Die elegante, aufmerksame Frau in einem geschmackvoll zebragestreiften Kostüm beeindruckte im BE vollends mit einem bescheidenen wie selbstbewussten Auftritt.

Moderatorin Elisabeth von Thadden (Die Zeit) fragte eingangs, warum Yasmina Reza kein Theaterstück geschrieben habe. Die politische Bühne des Wahlkampfes mit der Hauptfigur Sarkozy war wohl zu stark, um diesen Stoff in ein Drama umzuarbeiten, deutete Reza an. Aber mal abgesehen von der Entscheidung, Prosa zu schreiben: Schon vor dem Start ihres Projektes begegneten die Vertreter der Kultur dem Kandidaten der Konservativen, der zu diesem Zeitpunkt Innenminister war, äußerst reserviert. Reza musste, um das Buch realisieren zu können, sogar den Verlag wechseln.

In der Warnung ihres Umfelds, sie würde von Sarkozy und seiner Entourage derart eingenommen, dass sie ihre Integrität als Beobachterin verlöre, erkannte sie allerdings das Potenzial des Stoffes: Wenn die anderen wegschauen, dann schaut sie lieber genau hin. Herausgekommen ist ein 180 Seiten langes Buch, das eine getriebene wie die Geschehnisse antreibende Figur im Brennpunkt unterschiedlicher Wahrnehmungen zeigt – und sie im Spiegel ihrer Selbstwahrnehmung erneut bricht. Für einen kurzen Moment schien es, als ob Reza an diesem milden Frühlingsmorgen den Vorwurf zulasse, sie habe einen Präsidentschaftskandidaten gezeigt, wie er sich durch ihre Brille präsentiert – der wirkliche Sarkozy sei dabei verloren gegangen.

Dabei ist sie für grobe Argumentationen aber wohl einfach nur zu subtil. Einerseits ist Reza bewusst, dass sie dem Leser ihren Blick bezüglich der Deutung einer öffentlichen Figur aufzwingt. Andererseits weiß sie auch um den unausgesprochenen Konsens über das Was und vor allem das Wie der politischen Berichterstattung Bescheid. Es ist aber gerade diese Lücke, die durch ihre nur scheinbar entpolitisierte Perspektive entsteht, die Yasmina Reza nutzt – und damit das Politische umso deutlicher hervorkehrt. In der Fokussierung auf einen Mann, dessen Aktivitäten als Kandidat sich in Zusammenarbeit mit einem Apparat in erster Linie darauf richten, die Mehrheit von seiner Kompetenz zu überzeugen, offenbaren sich die Mechanismen im Inneren der Teilnehmer und der Apparatur sowie ihre gewollten wie ungewollten Effekte.

So beschreibt Reza den Kandidaten etwa mit seinen Abstürzen in die Banalität, wenn er zum Beispiel in einer Wahlkampfpause ein Magazin durchblättert und die Reklame einer Rolex preist – wo er natürlich in der Momentaufnahme dumpf wirken muss. Vor allem ist dies aber ein schönes Bild für die gelegentliche inhaltliche Aushöhlung, die die Wettbewerbsbedingungen mit sich bringen, wenn man fortwährend unterschiedlichen Erwartungen der Wähler gerecht sein möchte. In einer anderen Passage beschreibt sie Sarkozy, wie er Werbespots ohne jede Vorbereitung nach nur einem Take glänzend bewältigt. Warum die Autorin ihr Porträt explizit für kein Abbild der Macht erklärt, ist wiederum nur verständlich, wenn man die Antinomien mitberechnet, die von der porträtierten Figur ausgehen.

Die wiederum werden im Zusammenhang mit der ebenfalls beobachteten „Privatperson“ Sarkozy erkennbar – und eben das macht den poetischen Gehalt des Buches aus. Die auf Zukünftigkeit gerichteten Eigenschaften des Kandidaten interpretiert Reza eben nicht als Klischee der Unruhe des Tatmenschen, sondern als den von Sarkozy unbewusst hervorgerufenen Tod seiner „Jugend“, als Häutung zur Erwachsenheit der Präsidentschaft. Ihre Darstellung rückt sie somit in die abendländische Tradition der Auseinandersetzung um Herrschaft und ihre sozialen Echos. Reza bewältigt diesen Stoff mit Bravour.