erwin wirschaz, schauspieler
: Der Dekaden-Darsteller

ERWIN WIRSCHAZ, 85, mag die „Unverschämtheit“, mit der Ringelnatz Gedichte schrieb. Heute rezitiert er sie Foto: HB

Die Zeiten, in denen SchauspielerInnen zu Beginn der Probe die Bühnenbretter küssten, sind vorbei. Aber Erwin Wirschaz, der am Mittwoch 85 Jahre alt wird, hat sie erlebt. Ebenso wie sämtliche Bremer Nachkriegsintendanten. Mit Grausen erinnert er sich an die rosa Tapete mit den stilisierten Möwen, die früher das Theater am Goetheplatz auskleideten.

Wenn man mit Wirschaz durch die Gänge und Treppenflure des mondän renovierten Hauses geht, kann man Absatz für Absatz Theatergeschichte nacherleben. Wie Hübner mit Stühlen und dicken Büchern nach den Schauspielern schmiss. Und sich dann selbst ins Ensemble einreihte, um seine Intendanten-Gage aufzubessern. Wie Fassbinder nervte, weil er zur zehn Uhr-Probe um elf erschien. Woraufhin bis um 12 gefrühstückt wurde.

Wirschaz gehört zu jener ebenso freundlichen wie auftrittsorientierten Mimen-Generation, die jeden noch so kleinen Rahmen ernst genug nimmt, um das Gegenüber mit einer perfekten Erzähl-Performance zu erfreuen. Da ist keine Silbe hingenuschelt, keine Geste ohne Präzision. Rein muskulär würde man von Tonus sprechen. Wirschaz hat einen ausgesprochen hohen Kommunikations-Tonus.

Die Höflichkeit, der Hut, die Offenheit der Augen, ein trauriger Satz: „Dann stehst du allein, sind alle schon tot“. Der „Bremer Stil“ – Hübners, Zadeks, Steins, später auch Taboris Bruch mit dem konventionellen Theater – ist längst ein lexikalisch fixierter Meilenstein der europäischen Theatergeschichte. Wirschaz hat ihn verkörpert, zusammen mit Bruno Ganz und Jutta Lampe. Er war der einzige, den die große Kündigungswelle zu Beginn der Hübner-Ära nicht aus Bremen wegspülte. Und der Einzige, der auch die nächsten Jahrzehnte blieb. Noch vor anderthalb Jahren ließ er sich in „Pariser Leben“ besetzen, im Rahmen des „Bremer Ensembles“ vernetzt er sich mit der freien Szene vor Ort. Heute tritt er mit einem Ringelnatz-Abend im Schauspielhaus auf.

Dass auf der Bühne auch mal gevespert und im Parkett gepfiffen wird, gefällt Wirschaz nicht. Revolutionen hat er trotzdem mitgemacht. HENNING BLEYL