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Archiv-Artikel

Auslaufmodell Tagesmutter

Die Tagesmütter in Charlottenburg begehren auf: Der Bezirk will ihren Großpflegestellen weniger Kinder zuweisen. Eltern und Erzieherinnen vermuten eine gewollte Austrocknung der Großpflegen zugunsten der schlechter ausgestatteten Kitas

VON DORION WEICKMANN

Der Ziegenhof im Bezirk Charlottenburg ist eine Großstadtoase. Jede Menge Kleinvieh und Klettergerüste verwandeln das gründerzeitliche Geviert in ein Kinderparadies. Seit 1996 betreut Tagesmutter Dorothea Garske in der dazugehörenden Hinterhof-Remise zehn Kinder zwischen zwei und sechs Jahren, gemeinsam mit einer Kollegin. Die beiden Frauen können ihren Schützlingen schenken, was ein normaler Kindergarten kaum bieten kann: viel Zeit, viel Zuwendung und viel Atmosphäre. Nicht von ungefähr sind solche überschaubaren Einrichtungen – amtlich Großpflegestellen genannt – für Eltern attraktiv. Mit entsprechend langen Wartelisten.

Jetzt aber erhitzt ein Streit über Plätze, Geld und die Zukunft der Großpflegestellen die Gemüter: Die Verwaltung des Bezirks Charlottenburg-Wilmersdorf will künftig nur noch maximal acht Schützlinge zuweisen. Die Eltern sehen dadurch das altersgemischte Modell gefährdet, und die Tagesmütter fürchten den sozialen Absturz. Die Eltern von den betroffenen 14 Großpflegestellen im Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf haben inzwischen 1.600 Unterschriften gesammelt, um die Pflegen in ihrer jetzigen Form zu erhalten.

Dorothea Garske ist 55 Jahre alt. Wenn sie bald nur noch vier statt fünf Kinder in Obhut hat, geht sie mit 1.300 Euro nach Hause – bislang sind es 1.635 Euro. Nach Abzug von Sozialversicherung und Miete bleiben ihr 327 Euro zum Lebensunterhalt und damit weniger als der Hartz-IV-Satz. Gemeinsam mit ebenfalls betroffenen Kollegen im Bezirk hat sie die Verwaltung um eine allseits verträgliche Lösung gebeten. Stattdessen hat das Jugendamt den Tagesmüttern neue Verträge geschickt: Sie sollen der Reduzierung zustimmen – und damit gleichsam ihrer eigenen Abwicklung.

Die Behörde will auf diese Weise offenbar eigene Versäumnisse korrigieren. Von Rechts wegen hätten die Tagesgroßpflegemütter nämlich von Anfang an nicht mehr als jeweils vier Kinder betreuen dürfen. „Nie“, so Garske, „hat man uns gesagt, dass unser Tun illegal ist. Aber jetzt sollen wir plötzlich widergesetzlich sein.“ Wenn sie sich der Kurskorrektur widersetzen, müssen die Frauen damit rechnen, gar keine Pflegekinder mehr zu bekommen. Das wäre das endgültige Aus. Dorothea Garske könnte dann nur noch ihre privaten Rentenrücklagen aufbrauchen und anschließend zum Sozialamt gehen.

Das Schicksal der Erzieherinnen ist die eine Seite der Medaille. Die andere ist, was aus dem erfolgreichen Modell der Großpflege wird, die genau den Rahmen bietet, der von Bildungspolitikern und Wissenschaftlern gefordert wird: optimale, individuelle Förderung im Vorschulalter in familienähnlichen Strukturen, und zwar nicht nur für verhaltensauffällige oder gehandicapte Kinder.

Ina Hertel vom Verein der Mini-Kitas, die aus ehemaligen Großpflegen hervorgegangen sind, hat in anderen Bezirken die Umwandlungswelle bereits miterlebt. In den Kindergärten des Trägervereins versorgen derzeit je zwei Erzieherinnen doppelt so viele Kinder wie früher, nämlich bis zu zwanzig. Hertel hält diese Entwicklung für eine bildungspolitische Katastrophe: „Absolut unverantwortlich – hier steht die Bildungszukunft der Kinder auf dem Spiel.“

Die Charlottenburger Jugendamtsleiterin Uta von Pirani kann die Aufregung nicht verstehen. Sie will die Großpflegen verkleinern und für die Jüngsten reservieren. „Die Größeren müssen sich auch mal an große Gruppen gewöhnen.“ Genau dagegen wehren sich die betroffenen Eltern: Sie schätzen an der Großpflege, dass ihre Kinder vom Baby- bis ins Vorschulalter die gleichen Bezugspersonen haben und ein geschwisterähnliches, weil altersgemischtes Sozialgefüge erleben.

Tagesgroßpflege oder Kindergarten: Für den notleidenden Landeshaushalt macht das keinen großen Unterschied, wie Evelyn Kupsch von der Senatsverwaltung für Bildung mitteilt. Aber die Großpflegen übervorteilen, wie Kupsch meint, ihre Wettbewerber, weil sie einen besseren Personalschlüssel haben. Was die Senats- und Bezirksbeamten offenbar als Makel betrachten, verteidigt der Bundestagsabgeordnete von Tempelhof-Schöneberg, Peter Rzepka, als Errungenschaft. Nach Ansicht des CDU-Manns ist die Tagesgroßpflege eine „bewährte Alternative zu den öffentlichen Kindertagesstätten“ und sollte ausgebaut werden. Eine entsprechende Gesetzesinitiative auf Bundesebene ist in Sicht. Allerdings müsste auch das Landesrecht novelliert werden, um den Status quo zu legalisieren. Nur dann besteht die Chance, dass die gut qualifizierten Erzieherinnen, Heil- und Sozialpädagogen, die das Vorzeigeprojekt „Tagesgroßpflege“ gestemmt haben, nicht zum Sozialfall werden.