„Störungen nehmen eklatant zu“

Nur 15 Prozent der psychisch behandlungsbedürftigen Bremer Kinder und Jugendlichen bekommen einen Therapieplatz. In Bremerhaven liege die Behandlungsquote sogar bei nur 4,4 Prozent

HILKE SCHRÖDER ist analytische Kinder- und Jugendtherapeutin und im Vorstand der Psychotherapeutenkammer. KARL HEINZ SCHRÖMGENS, tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapeut, ist seit Gründung der Kammer deren Präsident.

Interview: Henning Bleyl

taz: Die Psychotherapeutenkammer nimmt in letzter Zeit verstärkt Stellung zu politischen Fragen. Liegt das daran, dass Sie als Organisation besser aufgestellt sind oder hat sich die psycho-soziale Situation der Bevölkerung verschlechtert?

Karl Heinz Schrömgens: Einerseits haben wir unsere kammerinternen Hausaufgaben gemacht, etwa die Erarbeitung von Ordnungen, die die Berufstätigkeit regeln. Andererseits sehen wir in der Tat sehr oft die Notwendigkeit, uns als Fachleute zu Fragen der Versorgung von psychisch beeinträchtigten Menschen zu Wort zu melden. Zunehmend mehr Menschen leiden an psychischen Störungen. Die Arbeitsunfähigkeitszeiten aufgrund psychischer Belastungen sind zwischen 2000 und 2006 um circa 40 Prozent gestiegen.

Hilke Schröder: Ein Anlass, uns zu Wort zu melden, war zum Beispiel die völlig unverständliche Streichung der „Elternbriefe“ zu Beginn des Jahres, die angesichts der wachsenden Hilflosigkeit in Erziehungsfragen eine ebenso niedrigschwellige wie wertvolle Hilfe darstellen. Dankenswerter Weise werden diese Briefe jetzt weiter zugestellt.

Die Hamburger Psychotherapeutenkammer sagt, dass 15 bis 20 Prozent der dortigen Kinder und Jugendlichen psychisch behandlungsbedürftig seien. Liegen für Bremen ähnliche Zahlen vor?

Schrömgens: Es gibt keine speziellen Untersuchungen für Bremen. Aber anhand der bundesweit erhobenen, aus der Literatur bekannten Zahlen gehen wir für Bremen von circa 7.200 psychisch behandlungsbedürftigen Kindern und Jugendlichen aus, in Bremerhaven dürften es 1.600 sein.

Wie begegnen Sie dem Argwohn, dass solche Größenordnungen interessengeleitet generiert sein könnten?

Schröder: Diese Untersuchungen sind ja nicht von uns beauftragt worden. Die Psychotherapeutenkammer hat lediglich von anderen ermittelte Ergebnisse zusammengefasst. Insgesamt waren das 14 Studien, unter anderem von der Robert-Koch-Stiftung. Die ist mit Sicherheit wissenschaftlich unverdächtig.

Sie bezeichnen Ihre Kammer gelegentlich als „Sprotte im Haifischbecken“ des Gesundheitswesens. Ihre Berufsgruppe ist zahlenmäßig klein, aber ist das Raubfisch-Gleichnis nicht ein bisschen übertrieben?

Schrömgens: So sehe ich uns eben. Als Berufsgruppe sind wir kein so gewichtiger politischer Akteur wie etwa die Ärzteschaft, die über einen ganz anderen Lobby-Einfluss verfügt. Wir können keinen Druck ausüben, sondern nur argumentieren.

Schröder: Im Praxis-Alltag befinden wir uns zudem in einer Konkurrenzsituation bei der Behandlung psychischer Störungen. Bei der rein medikamentösen Behandlung etwa des sich ausbreitenden ADHS-Syndroms [Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung] haben wir zwar noch nicht solche erschreckenden Zahlen wie in den USA, aber auch hier gibt es eine deutliche Zunahme der Verschreibung von Psychopharmaka, zum Beispiel Ritalin. Es werden zu viele Kinder ausschließlich pharmakologisch behandelt.

Sie haben bei verschiedenen Anlässen die „Beratungsresistenz der Politik“ beklagt, beispielsweise wegen der Kürzungen in der Erziehungsberatung und im schulpsychologischen Dienst. Hat sich diese „Resistenz“ mit dem Regierungswechsel gemindert?

Schröder: Wir führen regelmäßig Gespräche und haben durchaus das Gefühl, gehört zu werden. Andererseits muss man konstatieren, dass all die Aufregung durch den Fall Kevin lediglich dazu geführt hat, dass ein Teil der in der Vergangenheit gestrichenen Stellen etwa in der Erziehungsberatung wieder besetzt wurden. In der Gesamtbilanz wurde dort keine einzige zusätzliche Stelle geschaffen.

Schrömgens: Die Schulpsychologie ist vor einem Jahr in das „Zentrum für schülerbezogene Beratung“ aufgegangen. Dessen Konzept ist jedoch unseres Wissens noch immer sehr vage. Wir sehen diese Zentralisierung durchaus mit Sorge: Zum einen liegen die Bedarfe vor Ort, zum anderen befürchten wir, dass die spezifisch psychologisch-psychotherapeutischen Qualifikationen in diesem Bereich abgebaut werden.

Das Problem der fehlenden Vor Ort-Versorgung gibt es aber auch in Ihrem eigenen Zuständigkeitsbereich.

Nach Berlin, München und Köln hat Bremen die bundesweit vierthöchste Versorgungsdichte mit psychotherapeutischen Praxen. Die rund 450 Bremer PsychotherapeutInnen sind seit 2000 gemeinsam mit ihren 50 Bremerhavener KollegInnen in der Psychotherapeutenkammer organisiert. Hintergrund ist die 1999 erfolgte Anerkennung als Heilberuf. Der Altersschnitt der Bremer Therapeuten liegt bei 53 Jahren, Neuzulassungen als Kassen-Behandler sind derzeit nicht möglich. Für die Behandlung von Kindern und Jugendlichen stehen im Land Bremen nur 75 entsprechend qualifizierte Psychotherapeuten und Ärzte zur Verfügung. HB

Schrömgens: Das stimmt. Viele psychotherapeutische Praxen konzentrieren sich in der Östlichen Vorstadt, Schwachhausen und der vorderen Neustadt. In Findorff gibt es auch noch welche, aber in den Randgebieten sieht es sehr dünn aus. Erwachsene sind mobil und bevorzugen manchmal sogar eine wohnortferne Praxis. Aber für die Behandlung von Kindern ist das ein Riesenproblem.

Ein hausgemachtes – die meisten PsychotherapeutInnen bevorzugen eben diese Stadtteile.

Schrömgens: In der Tat spielen da Milieu-Aspekte eine große Rolle. Aber innerhalb eines kassenärztlichen Bezirks gibt es nun mal bisher keine räumlichen Steuerungsmöglichkeiten.

In Bremen werden nach Berechnungen der Kammer nur 14 Prozent, in Bremerhaven sogar nur 4,4 Prozent der behandlungsbedürftigen Kinder psychotherapeutisch versorgt.

Schrömgens: Immerhin haben wir es nach sehr langen Diskussionen mit den Krankenkassen und der Kassenärztlichen Vereinigung gerade erreicht, dass sich in Bremerhaven erstmals eine Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin niederlassen durfte. Allerdings nur im Rahmen einer so genannten Ermächtigung, also befristet. Es gibt dort insbesondere im Kinder- und Jugendbereich dramatische Wartezeiten für Therapieplätze.

Schröder: In Bremen-Nord herrscht ein ähnlicher Versorgungsnotstand. Dabei kann eine rechtzeitig erfolgte psychotherapeutische Behandlung der Gesellschaft sehr hohe Folgekosten ersparen.