„Geistige Verwahrlosung“

Psychiatrische Gutachten zeichnet vor Gericht das Leben des Vaters von Kevin als „fatal gescheitertes“ Bemühen eines „gutmütigen, aber naiven“ Menschen, seine Drogenabhängigkeit zu überwinden

Von Christian Jakob

In öffentlicher Verhandlung wurde am Freitag vor dem Bremer Landgericht das psychiatrische Gutachten im Kevin-Prozess vorgetragen. Zuvor wollten die Anwälte des wegen Mordes angeklagten Ziehvaters, des drogenabhängigen Bernd K., die Öffentlichkeit von dem Termin ausschließen.

Der Vorsitzende Richter lehnte den Antrag jedoch ab. Fast zwei Stunden nahm sich Gunther Kruse, Chefarzt der Klinik für Psychiatrie am Klinikum Hannover anschließend Zeit, um die Frage zu beantworten, ob K. für die Tötung des Kindes und die anschließende Verwahrung der Babyleiche im heimischen Kühlschrank, verantwortlich gemacht werden kann.

Die dabei von Kruse nachgezeichnete Biografie K.s war nichts für schwache Gemüter: Am 13. Geburtstag des Angeklagten beging sein alkoholkranker Vater Selbstmord. Schon in den Jahren zuvor war der Grundstein für Bernd K.s Suchtkarriere gelegt worden. Zu jener Zeit habe der Junge begonnen, die Reste aus den Schnapsflaschen des Vaters zu trinken. Vom Alkohol- und später vom Drogenkonsum sollte er nie wieder loskommen: Die Jahrzehnte danach waren gezeichnet von immer neuen Suchtschüben, Beschaffungskriminalität, Knast, kurzen Abstinenzphasen und Rückfällen.

Als er nach einem Gefängnisaufenthalt Sandra, die Mutter von Kevin kennen gelernt habe, sei das „wohl die große Liebe gewesen.“ Sie war ebenfalls heroinabhängig. Sie lebte in einer Wohnung, die ihr ein Mann zur Verfügung gestellt hatte, „um sich mit ihr zu schmücken“, so Kruse. Der Mann vergewaltigte sie. Und zeugte Kevin.

Bernd K. und Sandra bemühten sich, ihren Drogenkonsum einzuschränken. Mit mäßigem Erfolg. Kruse bezeichnete K. in dieser Phase gar als den „ordnenden Faktor“ der Beziehung. Er habe sich um die Wohnung gekümmert,Essen gekocht. Seine Freundin ging auf den Strich.

Nach einiger Zeit hätten die beiden ein weiteres Kind gezeugt, dass jedoch im Mutterleib starb. Die beiden verkrafteten dies kaum, ließen ihren Vorsatz, auf Beikonsum zu ihrer Heroinsubstitution zu verzichten, fallen. Die HIV-positive Sandra hielt den Drogenexzess nicht lange durch. Kurz nach dem ungeborenen Joshua starb auch sie. Danach folgte für K., der mit der Hilfe eines Anwalts das Sorgerecht erkämpfte, der totale Absturz. Zum Zeitpunkt von Kevins Tod habe K. neben seiner Heroin-Substitution noch Kokain konsumiert, dazu drei verschiedene Sorten Tranquilizer sowie täglich flaschenweise Likör, Wein, Bier. „Exorbitante Mengen“, so Kruse, „das sprengt jeden Rahmen“ .

K. habe ihm gegenüber „ohne Nachtreten“ den eigenen suchtkranken Vater mit den Worten „er konnte nicht anders, aber wenn er mal anders konnte, hat er sein Bestes gegeben,“ geschildert.

Ungefähr das gelte auch für K.: Seine Persönlichkeit beschrieb Kruse als „gutmütig, naiv, warmherzig, etwas langsam, depressiv“. Dass er sich zu dem fremden Kind Kevin aus Liebe zu seiner Freundin bekannt habe und sich wünschte, es möge nach ihm „Kevin Bernd“ heißen, zeige dies. K.s unterdurchschnittlicher IQ sei vermutlich Folge der „geistigen Verwahrlosung“ durch seine „permanente Hatz auf Drogen.“

K.s Steuerungs- und somit auch seine Schuldfähigkeit sei „sicher erheblich vermindert“. Kruse schloss mit der Empfehlung, K. nach der Haftstrafe in eine Entzugsklinik einzuweisen. Eine dauerhafte Unterbringung in einer geschlossenen Psychiatrie zum Schutz der Allgemeinheit sei nicht angezeigt.