: berliner szenen Die Hormonsauerei
Micha schlägt zurück
Frühling, gefährliche Zeit. Verlieben geht. Heuschnupfen und Stubenhocken ist für Loser. Besser, du fantasierst dir eine Luftknarre, abgespreizter Zeigefinger und Daumen, um wirklich, wirklich zu töten. Peng, peng. Und keine Tatwaffe weit und breit. Das wär was für Micha.
Micha nämlich treibt die „Sauerei mit den Hormonen“, wie er es nennt, zusehends ins kriminelle Abseits. Zum Beispiel attackiert er die fetten Tauben vor seinem Fenster mit Blasrohr und Makrameenadeln, weil sie ihm mit ihrem obszönen Gegurre den Schlaf rauben.
Micha lässt auch Bücher aus Leihbibliotheken mitgehen. Um seine Vitalfunktionen in den Griff zu kriegen, behauptet er. Zu dem Zweck schnallt er sich ein Gerät für Langzeit-EKGs um (das er seinem Hausarzt gemopst hat). Zu Hause trägt er die Daten in ein Diagramm ein und freut sich diebisch, wenn Puls und Herzrhythmus im grünen Bereich sind, während er mit dem Buch unterm Hemd die Aufsicht scheinheilig nach einem entlegenen Titel fragt. Die Bücher stellt er beim nächsten Mal wieder an ihren Platz.
Kürzlich war Micha zum Cocktailsaufen in der Victoria Bar. Später fuhr er im Taxi nach Hause, zusammen mit einem Kerl, den er kaum kannte, und dessen Freundin, die ihren Rausch ausschlief. Als der Typ unterwegs zum Geldholen in einer Bank verschwand, bestach Micha den Taxifahrer mit einem 50-Euro-Schein und brauste mit der ratzenden Kleinen im Fond davon. Einmal um den Block, beruhigt er mich, dann standen wir wieder genau da, wo wir losgefahren waren. Als wär nichts gewesen. Der Typ kam aus der Bank zurück, und man fuhr weiter. No big deal, meint Micha, grinst und bläst den Rauch von seinem Luftcolt. SASCHA JOSUWEIT