: Aras auf dem Mädchenbeinbaum
Das private Cristalino-Naturschutzgebiet am südlichen Rand des Amazonasbeckens ist ein amazonisches Vogelparadies. Ökotourismus ist ein wichtiges Instrument für den Erhalt Amazoniens. Als neue Verbündete kam vor zwei Jahren die deutsche Sektion der Umweltstiftung WWF hinzu
Die Cristalino Jungle Lodge liegt auf dem Gemeindegebiet von Alta Floresta im Norden des Bundesstaats Mato Grosso. Alta Floresta, rund 800 Kilometer nordöstlich der Landeshauptstadt Cuiabá gelegen, ist auf dem Landweg oder per Flugzeug (Ocean Air oder Trip) zu erreichen. Mehrere deutsche Reiseveranstalter haben die Cristalino Jungle Lodge in ihrem Programm, man kann jedoch auch direkt über die Website www.cristalinolodge.com.br buchen. Weitere Informationen: Brasilianisches Tourismusministerium www.braziltour.com
WWF-Deutschland, www.wwf. de/amazonien. Von Cuiabá aus können Vogelfreunde auf dem Landweg zwei weitere Ökosysteme mit touristischer Infrastruktur kennenlernen: die Cerrado-Savanne mit dem Nationalpark Chapada dos Guimarães und das Feuchtgebiet Pantanal. Ideale Reisemonate sind Juli und August. GD
VON GERHARD DILGER
Der schönste Moment ist die Morgendämmerung. Nachdem die Stufen des 50 Meter hohen Aussichtsturmes aus Metall erklommen sind, bietet sich den Besuchern ein seltenes 360-Grad-Panorama des nahezu unberührten Regenwaldes. Die ersten Sonnenstrahlen tauchen die Wolkendecke in ein dunkles Orange. Aus dem dichten Blätterdach, das sich allmählich in vielfältigste Grüntöne verfärbt, steigen Vogelgezwitscher und luftige Nebelschwaden empor. Mehrere Affenfamilien tollen kreischend durch das Geäst.
Das private Cristalino-Naturschutzgebiet am südlichen Rand des Amazonasbeckens ist ein Mekka für Vogelfreunde aus aller Welt. Erlaubt sind in dem 700 Hektar großen Areal Ökotourismus, Umweltbildungsprogramme für Jugendliche und Forschung. „Fast 600 Vogelarten gibt es hier, ein Drittel aller Arten Brasiliens“, schwärmt Alfredo Borkenhagen in seinem breiten Hunsrück-Dialekt.
Der deutschstämmige Mittfünfziger kam vor 25 Jahren nach Amazonien, nachdem sein Land in Südbrasilien für das riesige Itaipú-Wasserkraftwerk geflutet worden war. Wie viele Siedler versuchte er sich als Kleinbauer, dann ließ er sich vom Goldfieber anstecken und hoffte als Garimpeiro auf den großen Fund – vergeblich. Dann war er Holzfäller und Rinderzüchter. Seit zwei Jahren führt er die Ökotouristen auf den Wanderpfaden durch das Reservat, mal auf Portugiesisch, noch öfter auf Deutsch.
„Alles, was ich über Heilpflanzen weiß, haben mir die Indianer gezeigt“, sagt Alfredo und bleibt vor einem glatten dünnen Baumstamm stehen. „Das ist der Mädchenbeinbaum. Seine zerriebene Rinde lässt offene Wunden schneller heilen“. Dann zeigt er auf das „Schlangenblatt“, das gegen Schlangengift wirkt. Oder auf die berühmte „Katzenkralle“, deren gekochte Rinde gegen Kopfweh hilft. „Der Wald ist die beste Apotheke“, sagt Alfredo.
Alfredo und seine Kollegen bieten mehrere Bootstouren mit anschließender Wanderung an. Ein Pfad führt vom Ufer des Rio Cristalino in eine lichte Enklave des Cerrado-Ökosystems mit seinem trockenen, mannshohen Buschwerk. Plötzlich ziehen pfeilgerade zwei rotgefiederte Aras über unsere Köpfe hinweg. Von einer Anhöhe aus lassen sich mit dem Feldstecher gelbe Weber- und schwarzweiße Paradiesglanzvögel ausmachen. Ein junger Aasgeier breitet sein Federwerk in der Sonne aus.
Auf dem Rückweg lässt Alfredo das Boot flussabwärts treiben. Einige Besucher paddeln mit dem Kanu an den harmlosen Stromschnellen vorbei. Am Ufer sitzen grüne und blaue Eisvögel. Weil das Cristalino-Reservat völlig menschenleer ist, zeigen sich hier mehr Tiere als sonst wo in Amazonien. Am Steg flattern hunderte Schmetterlinge in der Mittagssonne, die meisten von ihnen sind gelb oder hellgrün. Über 2.000 Schmetterlingsarten haben Forscher in den letzten zehn Jahren hier ausgemacht, berichtet Alfredo.
Vitória da Riva Carvalho ist die Besitzerin und gute Seele des Reservats. „Ökotourismus ist ein wichtiges Instrument für den Erhalt Amazoniens“, lautet das Credo der 63-jährigen Unternehmerin mit den dunklen, kurzen Haaren. Aus ihrem Mund klingt das nicht wie ein abgeschmackter Werbeslogan. Denn ihre Cristalino Jungle Logde hat wenig mit den Touristenfallen gemein, wie sie andernorts im Urwald entstanden sind. Vielmehr ist sie das Ergebnis einer geduldigen Aufbauarbeit, die sich erst seit kurzem auch in klingender Münze auszahlt.
Das materielle Fundament legte ihr Vater Ariosto, ein abenteuerlustiger Pionier, der 1976 den Ort Alta Floresta („Hoher Wald“) gründete. Dessen Traum von einer harmonisch wachsenden Kleinbauernkolonie zerschellte zwar schon am Goldrausch der Achtzigerjahre, der Zehntausende in den Dschungel lockte – doch in Alta Floresta gehören die Rivas immer noch zu den mächtigsten Familien. Das Gemeindegebiet ist heute fast völlig abgeholzt, die höchsten Gewinne spielen die Schlachthäuser ein.
Nach dem Tod des Vaters 1992 zog die frühere Englischlehrerin in den Norden des Bundesstaats Mato Grosso. In São Paulo hatte sie sich bereits in der entstehenden Ökotourismus-Szene getummelt, Betriebswirtschaft studiert und Kontakte zu internationalen Umwelt-NGOs geknüpft. „Die schönsten Konzepte sind nichts wert, wenn man sie nicht Tag für Tag vor Ort umsetzt“, sagt die grüne Geschäftsfrau.
„Um die Entwaldungsfront aufzuhalten, die von Süden heranrückt“, meint Vitória da Riva, „muss ein Gürtel von Schutzgebieten her. Dazu gehören das riesige Gelände der Armee im Norden, Indianergebiete und die Nationalparks, die bisher nur auf dem Papier stehen.“ Ihr eigenes Reservat, dessen Erweiterung sie im letzten Jahr beantragt hat, kann darin nur ein winziges Mosaiksteinchen sein. Als neue Verbündete kam vor zwei Jahren die deutsche Sektion der Umweltstiftung WWF dazu, die die Konsolidierung des Juruena-Parks nordwestlich von Alta Floresta unterstützt.
Über ihre eigene Stiftung mischt die Chefin der Lodge kräftig in der Regionalpolitik mit. Skeptische Unternehmer versucht sie für „nachhaltige“ Geschäftsideen zu gewinnen. Fernseher und Klimaanlagen gibt es in den komfortablen Hütten nicht, dafür Solarpanele und Komposthaufen – in Brasilien keine Selbstverständlichkeit.
Doch der mehrtägige Aufenthalt im Cristalino-Reservat bleibt ein exklusives Vergnügen. Fast alle Gäste kommen aus Europa oder Nordamerika. „Die meisten Brasilianer, die es sich leisten könnten, haben keine Ader für die Natur, und für die Naturfreunde ist es meistens zu teuer“, räumt Vitória da Riva ein. Die Bildungsprogramme der Stiftung sind Schülern der teuersten Privatschulen São Paulos oder Rios vorbehalten.
Für Michael Evers vom WWF ist das Reservat am Rio Cristalino ein Paradebeispiel für gelungenen Ökotourismus – als Teil jener Bewusstseinsarbeit, die für den Erhalt Amazoniens unverzichtbar ist. Jahr für Jahr karren die Umweltschützer zahlungskräftige Manager aus Deutschland zur Cristalino-Lodge und in den Juruena-Park mit seinen imposanten Wasserfällen.
Vor einem riesigen, jahrhundertealten Paranussbaum erläutert Evers, wie wichtig angepasste Wirtschaftsweisen im Urwald sind. „Die Blüten werden von Orchideenbienen befruchtet“, sagt der Geograf, der beim WWF Deutschland die Waldabteilung leitet. „Die großen Nüsse, die bis zu 16 einzelne Nüsse enthalten, könnten nur von Agutis geöffnet werden, Nagetieren, die sie verbreiten und dann vergessen. Künstliche Paranussplantagen funktionieren einfach nicht“.
Unweit der Stelle, wo der Rio Cristalino in den Amazonas-Zubringer Teles Pires mündet, versinkt die Sonne blutrot hinter dem Horizont. Zehn Minuten später ein weiteres Schauspiel: Hunderte Reiher stürmen Zentimeter über der Wasseroberfläche flussabwärts. Nach dem Abendessen geht es noch einmal hinaus auf den Cristalino. Mit Taschenlampen lassen sich am Ufer die roten Augen der Kaimane ausmachen, dann schreckt ein Königsreiher auf. In den Baumwipfeln verharren graubraune Riesentagschläfer. Auf Portugiesisch heißen die regungslosen, über 50 Zentimeter großen, eulenähnlichen Vögel „mãe da lua“, Mutter des Mondes, sagt der Ornithologe Eduardo Patrial.
Am letzten Morgen führen Alberto und Eduardo ihre Gäste ein letztes Mal auf einen Urwaldpfad. Mit einer auf seinem iPod gespeicherten Melodie hat Eduardo einen Uirapurú angelockt, der aber unsichtbar bleibt. „Der singt so schön, dass man alle Sorgen vergisst“, flüstert Alberto und hält den Finger vor den Mund. Eduardo zeigt in seinem Taschenführer auf die Abbildung des braunen, unscheinbaren Orpheuszaunkönigs. Dann sagt er: „Wenn der singt, dann schweigt die übrige Natur. Und wenn du ihn hörst, dann heißt das, dass du wieder zurückkommst“.