Die Entronnene

„Das ist über uns gekommen, wie das himmlische Donnerwetter“, erinnert sich Jan de Vries an den töchterlichen Entschluss, Kunstgeschichte zu studieren. Am Samstagabend eröffnet Janneke de Vries als neue Direktorin der Bremer Gesellschaft für Aktuelle Kunst die erste von ihr kuratierte Schau

De Fries spricht kein gedrechseltes Kuratorinnen-Kauderweksch, das Schwellenängste vergrößert, statt sie abzubauen Erst wenn sie die Besucher wieder in den Vorraum geleitet, werden sie es bemerken: Diese Kunst hat etwas mit mir gemacht

VON BENNO SCHIRRMEISTER

Weener ist die grüne Stadt im Rheiderland. Und dass von dort ein geheimer Weg an den Puls der Gegenwartskunst führt, hätte man nicht erwartet. Aber es muss ihn geben. Janneke de Vries zum Beispiel ist dort 1968 geboren. Und sie hat ihn gefunden. „Das ist über uns gekommen, wie das himmlische Donnerwetter“, erinnert sich Jan de Vries an den töchterlichen Entschluss, Kunstgeschichte zu studieren. Mittlerweile hängen sie sich selbst Gegenwartskunst in die Wohnung, „und haben sogar Freude daran“, sagt er. „Das hätten wir uns nie träumen lassen.“ Aber es ist so gekommen. Wegen Janneke.

Janneke de Vries ist neue Direktorin der Bremer Gesellschaft für Aktuelle Kunst, kurz GAK. Heute Abend eröffnet dort die erste von ihr in und für Bremen kuratierte Schau: „Memory Theatre Twig“, eine Einzelausstellung von FOS, Jahrgang 1971, in Kopenhagen und London ein gefragter Mann, in Deutschland noch ein Geheimtipp. Bunt, leuchtend bunt ist die GAK unter seiner Hand geworden, „a family-friendly exhibition“, sagt er, als er kurz ins Direktorinnen-Büro huscht, aber jetzt müsse er mal schnell in die Stadt und „some rice“ kaufen. Mit Performance und DJ ist die heutige Vernissage zweifellos die attraktivste Veranstaltung der örtlichen langen Nacht der Museen. Dass deren Flyer trotzdem nur die Groß-Museen erwähnt, ist ein Zeichen dafür, dass auch Kulturwerber mitunter Mentalprovinzler sind. Und für den besonderen Status der GAK.

In der Kunstwelt – in Berlin, in Köln, in Basel, London und Venedig – erzählt man: Ich komme aus Bremen. Und wird gefragt: Da ist doch die GAK, was machen die denn gerade. Der gemeine Bremer hingegen vermutet hinter dem Namen ein Hühnerforschungs-Zentrum. In Wirklichkeit ist die GAK natürlich ein Kunstverein – aber eben Bremens zweiter, und deshalb hat sie sich „auf nicht völlig, aber doch weitgehend unbekannte, neue Kunst“ spezialisiert, so Vorstand Knut Nievers.

Der alte, Anfang des 19. Jahrhunderts gegründete, Kunsthallen-Kunstverein ist nach Werder die mitgliederstärkste weltliche Körperschaft des Landes. Davon ist die GAK weit von entfernt. Aber de Vries hat sich vorgenommen massiv zu werben: „Wenn ich hier irgendwann weggehe, will ich bei 450 sein.“ Sie lacht gerne, dämpft dann aber auch die Erwartungen: „Ich muss aufpassen,“ sagt sie, „dass mich nicht alle für übergeschnappt halten.“ Also noch einmal eine realistische Zahl: In den nächsten Jahren auf 350 zu kommen, „das muss doch zu machen sein, in einer Stadt wie Bremen.“

Daraus folgt, dass die GAK ein Kunstverein ist, „der“, das fällt spontan Ex-Direktorin Eva Schmidt ein, die Chefin des Siegener Museums für Gegenwartskunst ist,„erstaunlich wenig finanzielle Mittel zur Verfügung hat“. Aber eben auch besonders hartnäckige Direktorinnen: Zum Beispiel das Programm, das Schmidt in Bremen geschmissen, huihuihui! Ihre ersten Einzelausstellungen in Deutschland hatten unter Schmidts Leitung in der GAK: Peter Doig, den mittlerweile auch weniger avantgardistische Kulturredaktionen wie die von Spiegel und FAZ wahlweise als „Malerheld“ oder als „einsamen Malerstar“ anhimmeln, Tracy Enim, die jüngst den britischen Pavillon der Venedig-Biennale bespiet hat, Alice Creischer – documenta-Teilnehmerin 2007, … Die Reihe lässt sich fortsetzen, bis sie zu einem Who is Who der Gegenwartskunst angeschwollen ist. „Wenn ich schaffe“, sagt de Vries, „dass man meine Künstler ähnlich liest…“, sie sinniert, sinniert, und, ganz abrupt: „dann fänd ich das schon super.“

Super? Was für ein Wort!, und natürlich lacht sie wieder: Das ist jedenfalls kein gedrechseltes Kuratorinnen-Sprech, das Schwellenängste vergrößert, statt sie abzubauen. Als sie sich hinter den Direktorinnenschreibtisch setzt, hat die junge Frau, dünn, fast schon hager, kurze Haare, blond, die langen Arme hochgerissen und „allein diese Aussicht!“, ausgerufen, „da ist doch klar, dass ich gerne nach Bremen komme!“ Die GAK liegt auf der Teerhofinsel, die Fenster blicken auf die Weser, und irgendwann soll auch der Name der Einrichtung zur Stadtseite hin angebracht werden.

Super – das lässt sich auch als selbstbewusste Ansage deuten, weil es eben nicht heißt: Da kann unsereins nur von träumen. Oder das ist für mich ja leider ganz unvorstellbar, gerade in diesem ersten Jahr, wo doch erst im Herbst 2007 klar war, dass de Vries den Posten bekommen würde. Das ist eine ungünstige Zeit: Im Spätsommer haben die meisten Sponsoren ihre Mittel fürs nächste Jahr bereits verplant. Und kein Geld, keine Ausstellungen.

Super heißt: toll und – bei allem Respekt – da will ich auch hin. Dass sie das Potenzial dazu hat, hat sie ausgerechnet in Braunschweig bewiesen, wo sie Direktorin des Kunstvereins war: Im Herbst hat sie dort Mark Wallinger gezeigt, und während der Ausstellung bekam Wallinger den Turner-Preis.

Das ist der wichtigste englische Kunstpreis, und die Zahl der Turner-Preis-Träger, die in Braunschweig ausstellen, ist sehr, sehr klein: Kulturell verbindet man mit Braunschweig normalerweise einen sensationellen, aber von den Nazis verhunzten, romanischen Dom, das älteste Museum der Welt und die Atomuhr. Gesellschaftlich weiß man über die Stadt, dass sie fast 250.000 Einwohner hat und über die Hälfte Oberbürgermeister Gert Hoffmann gewählt haben, dessen politische Vita sich als Linksdrift beschreiben lässt: Mittlerweile befindet er sich am rechten Rand des rechten Flügels der Niedersachsen-CDU. Da gibt es also auch einen Kunstverein, interessant, interessant. Dessen Vorstandsvorsitzender ist ein Hoffmann-Freund, heißt Bernd Huck, ist Doktor jur. und die Sorte Mensch, die der Lokalzeitung sagt, er sage lieber nichts, „weil ich keine schmutzige Wäsche waschen will.“ Warum es dort so schnell schon wieder vorbei war mit Direktorin de Vries? Eine verlebte Stimme, die mit deutlich mehr Nachdruck durchs Telefon dröhnt, als nötig, um gehört zu werden: „Was das Kuratorische angeht“, da habe man „keine Veranlassung gehabt, mit Frau de Vries unzufrieden zu sein.“

Die Stelle hatte sie im Januar angetreten, vorher war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin im Hamburger Kunstverein gewesen. Die Kündigung kam nach nur einem halben Jahr und etwas über die Gründe aus seiner Sicht zu erzählen lehnt Huck ab, „das würde zu einer unerfreulichen Ausführung ausarten“, wie gesagt. Es habe ihn „gefreut, dass sie die Stelle in Bremen bekommen hat“, behauptet er, und zwar, weil er sich über jeden freue, „der nicht Hartz IV bezieht, das bezahle ich ja alles mit meinen Steuergeldern“. So wird es sein. Vielen Dank für die Auskunft. Jetzt wissen wir Bescheid.

Die Hartz IV- und Braunschweig und weiß der Teufel was noch Entronnene steht am Tresen und pinselt, so sieht es nämlich aus bei der ersten Begegnung in Bremen, die letzte Lackschicht muss trocknen, aber bis zur Vernissage ist das kein Problem. Der Tresen ist auch ein Ausstellungsstück, aber eins das bleiben wird: FOS arbeitet auf der Schwelle zwischen angewandter und absoluter Kunst, oder besser: Er macht beides zugleich. Für die GAK hat er jetzt das Entrée entworfen, das wird bleiben, für immer oder wenigstens die nächsten zehn Jahre, geschwungene Tische mit einer puzzleartigen blauen Oberfläche, nüchterne Katalogregale – und eben den Tresen, den de Vries jetzt fertig lackiert hat. Ist sie aber auch selber schuld: FOS wollte ihn zuerst in orangefarbigem Plexiglas bilden. Das fand sie nicht so optimal. Jetzt ist der Kassiertisch aus beige-braunem Holz.FOS nennt de Vries „eine gute Kuratorin“, eben weil sie das entstehende Werk gedanklich mit entwickle, es kritisch begleite, „weil sie auch mal Nein sagt, zu einer Idee“.

De Vries kulturelle Bildung hat mit forciertem Querflöteblasen angefangen, der Mutter zu liebe, bis der Beweis erbracht war, „dass ich absolut talentfrei bin“. Kunst in der Schule – war auch nicht ihr Fach. Eine kunsthistorisch interessierte Großmutter habe Führungen durchs Pergamon-Museum gemacht und sich selbst die Prägung der Enkelin zugeschrieben. Aber die Ansicht wird von der Enkelin nicht geteilt. Kinderspiele? Besondere Memories oder Bauhaus-Bauklötzchen?Nüschte. Sie habe geschrieben, journalistisch, und dann war da die Begegnung mit einem Fischli-Weiss-Werk, das sei „einfach überwältigend“ gewesen. „Da habe ich mir gesagt: Boah, wenn Kunst das mit dir machen kann, dann ist Kunst dein Ding.“ Studium in Marburg und Hamburg, Jobs als wissenschaftliche Mitarbeiterin, eine eigene Kunstzeitschrift. „Ich glaube an die visuelle Macht der Kunst“, sagt Janneke de Vries.

FOS hat sie 2004 auf der Kunstmesse London kennen gelernt. Er hatte dort, aus Messe-Abfällen, Kartonagen und Kisten, einen Eiscrème-Stand gebaut, „mit super-leckerer Eiscrème“. Die Aneignung und die Refunktionalisierung des Abfalls, das souveräne Überspielen des Unterschieds von angewandter und konzeptueller Kunst – das war es einfach, „seither wollte ich etwas mit ihm machen“.

Als Social-Design bezeichnet FOS seinen Ansatz, und familienfreundlich – das trifft es wirklich, in einem angenehmen Sinn: Dass es Berührungsängste mit Gegenwartskunst geben könnte, erscheint in dieser Erlebnisausstellung eine absurde Vorstellung. Denn das ist sie: Aus Zeltplanen in orange, zitronengelb und blau hat FOS einen Parcours gestaltet. Es ist höchstens nicht möglich, sich ihm zu entziehen – es sei denn durch Flucht rückwärts. Er durchquert fünf abgetrennte Räumchen, platforms,und ihnen begegnet der Besucher beispielsweise Vitrinen mit ultramarinblauen Ton-Flacons in möglichen und unmöglichen Design-Stilen geformt: Poison steht auf einer von ihnen, sie hat die Gestalt eines Totenschädels. Er begegnet auch einer knapp anderthalb Meter hohen geschlossenen, fleischfarbenen Faust: „Financial Erotic Act“, hat FOS sie genannt, und die Geste der Macht ist so leicht erkennbar, wie das erotische Geheimnis unbestimmt bleibt: Was verbergen die Finger dieser Riesenhand? Es geht, vielleicht, auf einer abstrakten Ebene um im werden begriffene Klassifizierungs- und Zuschreibungssysteme, um den Gegensatz zwischen Individualität und Ordnung. So, wie die sanfte Gewalt des Rundgangs den Blicken eine Richtung vorgibt. Aber erst wenn sie die Besucher wieder in den Vorraum geleitet, werden sie es bemerken: Diese Kunst, diese Wunderkammer hat etwas mit mir gemacht. Es war nicht unangenehm. Es war sogar interessant. Aber der Wille war nicht mein eigener.

FOS – Memory Theatre Twig!, Gesellschaft für Aktuelle Kunst, Bremen. Eröffnung heute 20 Uhr, mit Performance und DJ Christian von Borries