: Protest mit Treckern und Kinderwagen
Norddeutschlands Bauern legen im Kampf um höhere Milchpreise großflächig die Molkereien lahm, und langsam kommt der Lieferstopp im Handel an. Stimmungsbericht aus einem Land, in dem die Kühe trotzdem friedlich weitergrasen
VON FELIX ZIMMERMANN
Was den Lärm angeht, hat sich Martin Morisse in den letzten Tagen verschlechtert. Es ist lauter geworden. Normalerweise arbeitet Morisse auf seinem Bauernhof in Sandstedt im Landkreis Cuxhaven an der Wesermündung. Da hat er es mit gut 150 Milchkühen zu tun. Die machen Lärm, aber der ist nichts gegen das, was Morisse jetzt erlebt, fernab der Heimat, in Berlin.
Morisse ist Vorstandsmitglied beim Bundesverband deutscher Milchviehhalter (BDM), im Berliner Büro organisiert er den Protest für höhere Milchpreise, gibt Interviews, holt Lageberichte von Bauern ein und bespricht mit seinen Vorstandskollegen das Vorgehen. Da ist ein Lärm! Morisse sagt: „In einem Kuhstall mit 50-prozentiger Überbelegung ist Ruhe dagegen.“
Es ist den Bauern ernst, sagt er, „wir müssen unsere Existenz retten“. 43 Cent wollen die Bauern pro Liter Milch haben, zur Zeit bekommen sie höchstens 35 Cent, seit Januar ist der Milchpreis um 30 Prozent gesunken – „bei gestiegenen Produktionskosten“, sagt Morisse. So sei Milchwirtschaft nicht mehr rentabel. Es ist der Tag nachdem die ersten Verhandlungen zwischen Milchviehhaltern und Milchindustrieverband gescheitert sind.
Zeit für die Bauern, mit ihren Mitteln für ihre Forderungen zu kämpfen: Von Montag Vormittag an rollen Traktoren überall durch Norddeutschland, hunderte Landwirte machen sich auf, um Molkereien zu blockieren. Mittags meldet der schleswig-holsteinische Bauernverband, dass alle 14 Betriebe abgeriegelt sind, im ostfriesischen Aurich versperren da schon 150 Traktoren die Molkerei Rücker, während die Polizei im niedersächsischen Rehburg-Loccum mit 240 Leuten versucht, die Zufahrt zu einer Molkerei frei zu räumen. Betroffen ist auch Nordmilch, eine der größten Molkereien Deutschlands. Das Unternehmen schlägt Alarm und spricht von der Einstellung der Produktion, diverse Werke in ganz Norddeutschland sind dicht. Weil die Tankwagen voller frisch gemolkener Milch die Betriebe nicht anfahren können, drohe „die bewusst erzwungenen Vernichtung von gewaltigen Mengen Rohmilch“, bis zu 500 Tankwagen mit jeweils 25.000 kg Fassungsvermögen könnten nicht entleert werden. Zwar verstehe man die Landwirte, „die sich dem Druck der Märkte in einem teilweise Existenz bedrohenden Ausmaße ausgesetzt werden“, lässt Nordmilch verlauten, verabscheue aber zugleich die Vernichtung „gigantischer Mengen an Milch und die massive Schädigung von 75 Prozent der Bauern, die sich nicht am Boykott beteiligen wollen“.
Für das Unternehmen ist es ein Spagat: Einerseits ist da Verständnis, andererseits aber auch Ablehnung der Mittel, mit denen sich der Protest jetzt äußert, weil die Produktion darunter leidet. Dabei müsste Nordmilch eigentlich auf Linie der Bauern sein, denn als Genossenschaft gehört sie ihren Milchlieferanten. Milchbauer Morisse sieht genau darin Handlungsbedarf für die Zeit nach dem Boykott: „Wir müssen sehen, wie wir den Einfluss auf das Unternehmen zurück bekommen, der uns zusteht.“ Den Vorwurf, ein Großteil der Milchviehhalter würde die Blockaden nicht unterstützen, pariert er mit Zahlen aus seiner Heimat: Zwischen Cuxhaven, Bremervörde und Bremerhaven beteiligten sich 85 Prozent aller Milchbauern, „und das ist das milchreichste Gebiet der Welt“.
Die Blockaden könnten, so heißt es am Nachmittag, für die Bauern teuer werden. Der Genossenschaftsverband Norddeutschland rechnet mit Schadenersatzforderungen des Einzelhandels und der Bauern, die mit ihrer Milch an der Fahrt zur Molkerei gehindert wurden. „Es gibt nach wie vor eine große Anzahl von Landwirten, die liefern wollen“, sagt Genossenschaftssprecher Burghardt Otto. Bauern wie Morisse ficht das derzeit nicht an: Der Protest ist alles, es gehe um die Existenz. Und schon jetzt trägt er finanzielle Konsequenzen: Sein Hof verliert täglich 800 Euro, weil die Milch an die 30 Kälber verfüttert oder vermischt mit Gülle als Dünger auf die Ländereien geschüttet wird.
Im Lebensmittelhandel werden die Auswirkungen des seit einer Woche andauernden Protestes heruntergespielt. Bei der Edeka-Zentrale in Hamburg äußerte sich ein Sprecher gestern so: „Heute sieht es noch gut aus, aber zu Prognosen möchte ich mich nicht hinreißen lassen.“ Es könne aber „punktuell zu einem geringeren Angebot in den Märkten kommen“.
Derweil sorgten am Wochenende die Landfrauen aus Leer dafür, dass der Lieferboykott sehr wohl nun auch in den Geschäften spürbar wird: Die 13 Vereine des Kreises verteilten sich auf Supermärkte der Region und kauften im großen Stil die Milchregale leer. Kreisvorsitzende Gertrud Cramer etwa kaufte unter anderem drei Paletten H-Sahne. Die kann sie demnächst auch gut gebrauchen: Für die Cafeteria der Leeraner Blumenschau haben die Landfrauen 130 Sahnetorten versprochen.