In der Stadt der Aliens

Von Melbourne aus betrachtet ist Berlin das Mutterschiff der Außerirdischen. Hierher zogen also die Rocker von Long Walk Home, um eine Weltkarriere zu starten. Eine Platte hatten sie schon im Gepäck

VON THOMAS WINKLER

Aus weiter Ferne nimmt Berlin mitunter seltsame Erscheinungsformen an. Begibt man sich exakt sechszehntausend Kilometer weg, dann verwandelt sich die Stadt, findet jedenfalls Charlie Inprocess, in „das Mutterschiff der Außerirdischen“. Wenn man sich zu Hause in Melbourne nie so recht zu Hause gefühlt hat, sondern „wie ein Alien“, dann ist das wohl Grund genug, für Charlie jedenfalls, sich mit seinen auftoupierten Haaren und seinem exaltierten Auftreten dorthin aufzumachen, wo die Seelenverwandten schon warten.

Nun wäre die Geschichte von Charlie Inprocess und seiner Suche nach einer neuen Heimat, die endlich die richtige ist, nur eine Geschichte unter vielen, wie sie in Dokusoaps allnachmittäglich wiedergekäut werden. Aber Charlie Inprocess ist nicht nur ein Auswanderer, sondern auch Sänger einer Band, die den weiten Weg aus dem heimischen Melbourne mit ihm zusammen gegangen ist.

Mittlerweile leben Long Walk Home schon ein Jahr in Berlin. Sie bringen ihr bereits in Australien veröffentlichtes Debütalbum „Youism“ noch einmal hierzulande heraus und haben angeblich noch nicht mal ernsthaft in Betracht gezogen, ihren Namen zu ändern. Klar, gibt Schlagzeuger Aiden McLaren zu, „in unserer Situation ist der Witz mit dem Namen natürlich schon 50.000 Mal gerissen worden“. Demnächst aber, hofft man, erledige sich das Problem sowieso. „Spätestens, wenn wir berühmt geworden sind“, grinst Inprocess.

Das allerdings ist nur leicht ironisch gemeint. Die Band sieht dem Umzug nach Berlin tatsächlich als Voraussetzung für den Karrieresprung. Zu viele Bands habe man beobachtet, die auf dem kleinen australischen Markt versauerten und schließlich scheiterten. Also wurde beschlossen, erzählt Bassist Michael Robb, „nach Europa zu gehen, egal wohin in Europa“. Die Entscheidung für Berlin fiel vor allem dank der romantischen Vorstellungen des Sängers und dem Wissen darum, dass das Leben in der deutschen Hauptstadt vergleichsweise erschwinglich ist. „In London hätten wir keine Zeit mehr, Musik zu machen“, sagt McLaren, „weil wir nur für die Miete arbeiten müssten“.

Von der Band aber können Long Walk Home auch in Berlin nicht leben. Denn die angestrebte Weltkarriere kommt erst langsam in Gang. Aber zu Konzerten kommen mittlerweile immerhin schon um die 100 Zuschauer und die Wiederveröffentlichung des Albums hier werten die vier als Anzeichen, dass sie sich auf dem richtigen Weg zum großen Erfolg befinden könnten.

Fraglich allerdings bleibt, ob eine Rockband ausgerechnet von Berlin aus die Welt wird erobern können. Die Stadt steht in der weiten Popwelt schließlich immer noch am ehesten für Experimente mit Müll oder elektronischen Beats, nicht aber für Rock. Denn auch wenn sich Long Walk Home schon allein wegen ihrer außergewöhnlichen Besetzung ohne Gitarre nicht als Rockband sehen, sie spielen Rock. Allerdings einen anspruchsvollen, mitunter etwas verschwurbelten und verkopften, zu Drama und Theatralik neigenden Rock.

Was Long Walk Home von einer herkömmlichen Prog-Rockband abhebt, ist aber ganz eindeutig ihr Sänger. Während Drummer McLaren, Bassist Robb und Jake Bovill, der Geige und Mandoline spielt, sich schon aus demselben, zwei Autostunden von Melbourne entfernten Kaff kennen, kam Inprocess erst später hinzu.

Inmitten seiner eher bodenständigen, zum Teil mit Rockerbärten ausgestatteten Mitstreiter wirken der androgyne Sänger, der Edith Piaf und Nina Simone verehrt, und sein Spiel mit sexuellen Identitäten erst recht extravagant. Und auch musikalisch beuten Long Walk Home mehr oder weniger bewusst diese Diskrepanz aus: Immer wieder klingen sie auf „Youism“ romantisch und verträumt, fast kitschig, während Inprocess nicht nur stimmlich an einen jugendlichen Morrissey erinnert, nur um im nächsten Moment loszubrettern wie eine breitbeinige Schweinerock-Kapelle, die zu viel Jazz gehört hat.

Wenn Sigur Ros, Muse oder System of a Down mit einem vergleichbaren Konzept berühmt geworden sind, dann könnten das auch Long Walk Home schaffen. Doch bis der angestrebte Erfolg kommt, arbeitet Inprocess in der PR-Abteilung einer Sprachschule. McLaren und Robb jobben als Englischlehrer, und Bovill kellnert vor allem, ist aber gerade in der alten Heimat.

Bovill ist auch der einzige, der noch Anpassungsschwierigkeiten in Berlin hat. Der Rest fühlt sich mittlerweile zu Hause. Die ersten Monate waren hart: Anfangs lebten alle vier zusammen in einem einzigen Zimmer, dann begann das „Couch-Surfing“ bei ständig wechselnden Gastgebern, mal alten Freunden, mal neuen Bekannten. Nun aber hat man sich etabliert, zum Teil deutsche Freundinnen und auch schon ein paar Sprachkenntnisse erworben.

Der noch in Australien gefasste Plan für das erste Berliner Jahr, ankommen und erste Fortschritte erkennen, ist jedenfalls erfüllt. Einen Nachfolgeplan gibt es nicht. Aber Inprocess weiß schon jetzt, dass er nicht zurückkehren wird nach Melbourne, sondern hier bleiben wird in dieser Stadt, die „zur Depression neigt“. Zwar war Berlin, aus der Nähe betrachtet, dann doch nicht die Heimstatt aller Außerirdischen, die er sich erträumt hatte. „Aber die Stadt hat mich trotzdem nicht enttäuscht“, sagt er, „denn ich habe hier gelernt, dass man dieses Gefühl, dieses Fremdsein immer in sich trägt.“ Und mit sich bringt, manchmal eben auch von 16.000 Kilometer weit weg.

Long Walk Home: „Youism“ (Dance Macabre/Alive)