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Archiv-Artikel

Alle Kunst ist Regenmagie

Das verlorene Schlangenritual: Joan Jonas, amerikanische Pionierin der Performance, im Haus der Kulturen der Welt

Aby Warburg war ein Bildersammler, der als Erfinder des Bilderatlasses Mnemosyne bekannt wurde. Sechs Jahre seines Lebens verbrachte das Superhirn der Ikonologie hinter den Mauern eines Schweizer Sanatoriums. Befreien konnte er sich mit Hilfe seiner kognitiven Fähigkeiten: Er beeindruckte die Ärzte mit einem Vortrag über die Schlangenzeremonie der Hopi-Indianer.

Die New Yorker Performancekünstlerin Joan Jonas erzählt in ihrer Arbeit „The Shape, The Serpent, The Feel of Things“ von Aby Warburgs Abstecher in die geschlossene Couchabteilung. Allerdings erzählt sie die Anekdote gleichzeitig als Geschichte des amerikanischen Kontinents, als staubigen Woody-Guthrie-Song und als schamanisches Ritual. Als Wiederaufführung der zwei großen US-Mythen also: der „Go West“-Mentalität der weißen Siedler und der Naturverbundenheit der Indianer und somit auch als Kampf zwischen Technik und Spiritualismus.

„Als Psychohistoriker versuche ich, die Schizophrenie der westlichen Gesellschaft durch ihre Bilder zu diagnostizieren“, zitiert Jonas Warburg gleich zu Anfang. Ihr Stück, mit dem die 72-Jährige Stargast des Performancefestivals „In Transit 08“ im Haus der Kulturen der Welt ist, ist ohne Frage bildgewaltig, aufgeführt in einem lang gestreckten Raum, der halb Krankenzimmer, halb Straße ist. Im Hintergrund zuckelt Jonas durch Projektionen der großen Prärien mit einem Handwägelchen, auf dem ein ausgestopfter Kojote sitzt. Auch Jonas mag Amerika, und Amerika mag sie. Ein beleibter Aby Warburg hängt auf seiner grob gezimmerten Analysecouch Tagträumen nach. Aufnahmen von Blumen und Schmetterlingen legen sich über die Szene.

Man kann sich Warburg als einen Carl von Linné der Bilder vorstellen. Einen manischen Katalogisierer, der einem Schmetterlingsjäger gleich alles, was Bild und Zeichen ist, in Systematiken aufspießt.

Jonas lässt zwei Holzblöcke zusammenknallen. Das Geräusch verweist auf die Ki-Hölzer des japanischen Kabuki-Theaters und erinnert an die frühen 70er-Jahre, als sie begann, Zeichen nichtwestlicher Kulturen in ihre Kunstaktionen zu integrieren. Nachdem sie, angeregt von Tänzerinnen wie Lucinda Childs und Yvonne Rainer, zunächst den eigenen Körper als skulpturales Material erforscht hatte, kaufte sie sich 1970 ein Exemplar der ersten tragbaren Videokamera.

An vielen Stellen von „The Shape, The Serpent, The Feel of Things“ erinnert Jonas an diese Pionierzeit der Performance, mit Close-Circuit-Videos, Bildfragmentierungen und Zeichnungen, denen sie den Charakter eines meditativen Rituals gibt: Bei einem emotionalen Höhepunkt ihrer Performance malt sie das Symbol einer Schlange auf ein riesiges Blatt Papier, während eine zweite Schauspielerin mit einer Art fahrbarem Paravent die Bewegungen einer Klapperschlange nachzeichnet.

„Alle künstlerische Praxis ist in Regenmagie eingebettet“, behauptet Jonas und entfesselt auf der Bühne einen multimedialen Gewittersturm, kongenial begleitet vom Jazzpianisten Jason Maron. Kurz danach lässt sie den Warburg-Schauspieler darüber klagen, dass die Elektrifizierung der Welt die räumliche Distanz abgeschafft habe und nun keinen Platz mehr für Schlangenanbetungen lasse. Dazu zeigt die Videoleinwand Bilder von rollenden Güterzügen und Telegrafenmasten. Fortschritt und Logik haben sich durchgesetzt.

Doch ist das wirklich so? Nach der Performance verlässt man das Haus der Kulturen der Welt, und plötzlich sitzt mitten auf der Wiese vor dem Gebäude ein Fuchs. Seelenruhig zerfleischt das Tier einen toten Igel. Und wirkt dabei wie ein kleiner archaischer Gott, der von Joan Jonas nach Berlin beschworen wurde. TIM ACKERMANN

„The Shape, The Scent, The Feel of Things“: noch heute, 18 Uhr, Haus der Kulturen der Welt