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Archiv-Artikel

90 minuten auf der berliner karl-marx-allee Die Russen kommen! – Ins Viertelfinale …

Sozialistischer Klassizismus, Marx und Stalin – aber wo sind eigentlich die Russen?

„Berlin, Berlin, wir jubeln in Berlin!“ So steht es geschrieben auf dem großen Werbetransparent eines Onlineauktionators, das den Brunnen auf dem Strausberger Platz verdeckt. Der Kapitalismus ist angekommen im Zentrum der Berliner Karl-Marx-Allee, dem ehemaligen DDR-Prachtboulevard, wo sich mächtige sozialistische Wohnblöcke kilometerlang aneinanderreihen. Der Ku’damm des Ostens!

Auf der gegenüberliegenden Staßenseite des alten Premierenkinos „International“ befindet sich das Café Moskau, einziges von ehemals sieben „Nationalitätenrestaurants“, das die Wende überlebt hat. Hier müssten sie doch eigentlich der Dinge harren, die da kommen: dem ersten russischen Euro-Viertelfinaleinzug seit Auflösung des Ostblocks.

Der Verkehr rauscht – aber wo sind die berauschten russischenFans? Verstohlener Blick in Richtung Alexanderplatz, wo die Neonreklame einer großen Berliner Zeitung in Besitz eines britischen Investors flimmert, und zum „International“, wo mit einer britischen Hauptdarstellerin für einen französischen Film geworben wird. Und das Café Moskau selbst? Geschlossen, wird renoviert, war nicht mehr zeitgemäß. Ist der „White Russian“ auf der Karte der kleinen Bar nebenan denn tatsächlich alles, was in der Ex-Stalinallee an die einstige Weltmacht erinnert? Sogar auf der russischen Trainerbank sitzt inzwischen ein Holländer.

Doch da, drei junge Fans, selbstbewusst gehüllt in die weiß-blau-rote Fahne, „Ross-i-ja, Ross-i-ja“ beschwörend, betreten die Szenerie. Sie schauen abfällig auf die kleine Gruppe von Gästen, die nebenan Wein statt Wodka trinken und dem Spiel nur nebenbei ihre Aufmerksamkeit schenken. Ja, wo gucken sie denn nun, die Russen? „Wissen wir auch nicht“, entgegnet einer der Jungs, „wir dachten, hier! Wir fahren wieder nach Hause, gucken da weiter!“ Spricht’s, und verschwindet mit seinen Freunden im U-Bahnschacht Schillingstraße. Dabei ist das Spiel mitreißend, der Kommentator lobt: „Ganz großer Sport, den die Russen hier zeigen!“ Sind sie also vielleicht auf dem Fußballplatz die neue Macht in Europa?

Ivan Saenko grinst und antwortet, vom ARD-Reporter nach den Halbfinalchancen der Mannschaft gegen die favorisierten Holländer gefragt, ausgerechnet mit der amerikanischen Binsenweisheit schlechthin: „Impossible is nothing!“ DÖRTE SCHÜTZ