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Archiv-Artikel

Der Pechvogel wird Held

So irrlichternd wie seine ganze Karriere war er, der Auftritt des türkischen Ersatztorhüters Rüstü beim Viertelfinal-Erfolg gegen Kroatien – und damit symptomatisch für seine Mannschaft bei dieser EM

AUS WIEN TOBIAS SCHÄCHTER

Natürlich hat er geschwiegen, kein Wort ist von Rüstü Recber für die Öffentlichkeit überliefert. Nur die Taten des türkischen Torwarts bleiben aus jener schon jetzt in der Türkei legendären Nacht vom vergangenen Freitag in Wien in Erinnerung. Zum Beispiel, wie er in der 117. Minute aus seinem Tor gerannt ist, und alles schien wieder einmal zu spät zu sein für die Türken und ihren irrlichternden Torhüter: Ivan Klansic köpfte die Kroaten kurz vor dem Ende der Verlängerung in Führung, aber Rüstü stand auf, zog seine Kollegen wieder auf die Beine, die wie nach einer Niederlage verzweifelt und erschöpft auf dem Boden lagen. Nie aufgeben, immer weiter, hatte Rüstü das Motto der Türken bei diesem Turnier verinnerlicht. Dann, zwei Minuten später, schoss er einen Freistoß aus dem Mittelkreis in den Strafraum der Kroaten. Ein allerletzter verzweifelter Versuch: Der Ball fällt Semih vor die Füße, und der eingewechselte Stürmer drischt ihn zum Ausgleich unter die Latte: Elfmeterschießen. Dort wird Rüstü endgültig vom Pechvogel zum Helden, als er den Elfmeter von Mladen Petric hält und die Türkei erstmals ins Halbfinale einer EM eingezogen ist. 4:2 heißt es nach Verlängerung und Elfmeterschießen gegen Kroatien – zum dritten Mal in diesem Turnier haben die Türken einen Rückstand in einem Sieg verwandelt.

„Abi“, großer Bruder nennen die Kollegen den 35 Jahre alten Rüstü hochachtungsvoll. Am Freitag kam der Rekordnationalspieler nur zu seinem 117. Einsatz, weil Volkan seit seiner Roten Karte gegen Tschechien gesperrt ist. Trotzdem ist er eine Institution in der Mannschaft. Und das nicht nur, weil er der Einzige ist im aktuellen Kader, der schon 1996 bei der erstmaligen Teilnahme einer türkischen Nationalmannschaft bei einer EM dabei war. Rüstü war der erste türkische Torhüter mit internationalem Format. 2002, als die Türkei WM-Dritter wurde, wählten die Experten ihn zum zweitbesten Torhüter des Turniers hinter Oliver Kahn. Der Mann mit dem Zopf und den schwarzen Balken unter den Augen (zum Schutz gegen blendendes Licht), machte sich damals für internationale Klubs interessant. Doch der Wechsel zum FC Barcelona wurde zum Desaster. Rüstü hielt schlecht, weigerte sich, Spanisch zu lernen, und kehrte entnervt zu Fenerbahce zurück, wo Volkan ihn verdrängte. Als der brasilianische Trainer Zico ihn vor der letzten Runde zum Torwart Nummer 3 degradierte, wechselte Rüstü zu Besiktas. Stark mitgenommen hat Rüstü auch ein Zwischenfall nach einem Pokalspiel, das Fenerbahce vor einigen Jahren gegen den Drittligisten Pendikspor verloren hatte. Rüstü wurde nach dem Spiel von mehreren Hooligans zusammengeschlagen. Der Torhüter gab deswegen die Kapitänsbinde ab.

Nun ist der große Schweiger Freitagnacht noch einmal auf die internationale Bühne zurückgekehrt, mit einem gleichsam für sein Land und seine eigene Biografie so typischen Auftritt zwischen den Extremen. Nur einmal hat er bei diesem Turnier bislang zu Reportern gesprochen, am Abend vor dem ersten Spiel gegen Portugal saß er in Genf auf dem Podium und sagte: „Ich bin immer stolz, wenn ich für mein Land eine Aufgabe erfüllen kann, auch wenn ich auf der Bank sitze. Ich unterstütze Volkan, wo es nur geht.“

Am Mittwoch in Basel gegen Deutschland könnte Rüstü noch einmal als Nummer 1 auflaufen, aber nur, wenn der Einspruch des türkischen Verbands gegen die zwei Spiele lange Sperre von Volkan bei der Uefa heute keinen Erfolg hat. Es wäre das allerletzte Mal. Im möglichen Finale würde Volkan auf jeden Fall zurückkehren. Und nach der EM tritt Rüstü ab. Große Worte wird er aber auch dann nicht machen.