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Archiv-Artikel

Italien vergessen

Die Spanier wollen „Geschichte schreiben“. Dafür müssen sie Halbfinalgegner Russland ein zweites Mal besiegen

NEUSTIFT taz ■ Oben an den steilen Hängen des Omesbergs waren Spaniens treueste EM-Zuschauer, die Schafe, schon nach Hause gegangen, als unten im Stubaital Trainer Luis Aragonés seinen Auserwählten zurief: „Feierabend!“ Aber Francesc Fàbregas ging einfach nicht vom Fußballplatz. Etliche Minuten später jagte er den Ball noch immer auf das Tor von Ersatztorwart José Reina; aus elf Metern natürlich.

Elfmeterschießen ist ein Spaß geworden, seit Mittelfeldspieler Fàbregas seinen am Sonntag im Viertelfinale gegen Italien verwandelte. „Ich hatte seit der C-Jugend keinen Elfer mehr geschossen“, erzählte Fàbregas nach dem Training im spanischen EM-Quartier in Neustift. Als er gegen die Italiener zur Tat schritt, „habe ich laut mit mir selbst geredet, um mich zu fokussieren“.

Der Sonntag, als Spanien zum ersten Mal seit 24 Jahren wieder ein Viertelfinale bei einer WM oder EM überstand, war ein Tag, an den sie sich immer erinnern werden. Das ist nun ihr Problem: Sie müssen ihn vergessen. Wenn Spanien heute in Wien im Halbfinale gegen Russland antritt, kämpfen sie auch gegen den ewigen Drang des menschlichen Unterbewusstseins, zu früh zufrieden zu sein. Sie werden das Unterbewusstsein prügeln, verspricht Xavi, der Spaniens Spiel im Mittelfeld entwirft: „Wir haben einen Schritt getan. Aber wir wollen etwas anderes: Geschichte schreiben.“

Sie sind den Russen bereits begegnet, beim 4:1-Sieg im Auftaktspiel der Vorrunde. Aber Xavi winkte ab: „Mit dem 4:1 hat das Halbfinale nichts zu tun. Die Russen haben seitdem ein schreckliches Selbstvertrauen gefunden.“ Es wird ein Kampf um den Ball wie noch nie bei dieser EM: Russland war im Auftaktspiel die einzige Elf in den vergangenen zwei Jahren, die gegen Spanien mehr Ballbesitz hatte. Und Spanien will sich nicht ändern, sondern weiterhin die Initiative beanspruchen durch das Spielsystem mit zwei Stürmern, David Villa und Fernando Torres. Die Mittelfeldstars des englischen Vereinsfußballs, Fàbregas und Xabi Alonso, bleiben auf der Ersatzbank.

Einen einzigen Aufpasser hat Trainer Luis Aragonés ins spanische Mittelfeld eingebaut. Es sagt alles über Spanien, dass dieser eine vorzügliche Zerstörer im Mittelfeld, Marcos Senna, eigentlich auch ein kreativer Passmeister ist. Spanien hat momentan keinen gelernten defensiven Mittelfeldspieler von Qualität; Senna, der für Villarreal eine überragende Vereinssaison als offensiv orientierter Spieler gab, hat sich bei der Europameisterschaft in der Wachmannrolle neu erfunden. Die italienischen Medien wollten in ihm gar durchweg den besten Mann des Viertelfinales gesehen haben. Jedenfalls brachte ihm seine Leistung gleich ein Angebot von Juventus Turin ins Trainingscamp; schade, dass es keine Sportdirektoren, sondern nur Reporter waren, die sich die Offerte sicher ausgedacht hatten. Senna raubte es nicht die Bescheidenheit. Ob er, so vielfältig wie er sich gerade präsentiere, ein kompletter Fußballer sei? „Wenn ich komplett wäre, würde ich bei Milan oder Real Madrid spielen.“

Sie genossen die Seligkeit des Sieges über Italien in den letzten Zügen, bevor sie sich die Nüchternheit für das Halbfinale aufzwingen mussten. Fàbregas wurde nach dem Training von Autogrammsammlern umringt, ein Junge hielt ihm sein Deutschlandtrikot hin. „Ah, Deutschland“, sagte Fàbregas, „wir sehen uns doch im Finale.“ Der Junge starrte ihn mit offenem Mund an; als ob er ihn wegen dieser Prognose für verrückt hielt. Er hatte sich aber wohl nur erschreckt, weil Fàbregas Spanisch mit ihm sprach. RONALD RENG