Boom der bewegten Bilder

Junge KünstlerInnen aus Finnland, Estland und Russland arbeiten vorzugsweise mit Fotos und mit audiovisuellen Medien wie Filminstallationen und Videoloops. Das jedenfalls legt die Ausstellung „Borderlives – zeitgenössische Kunst aus Helsinki, St. Petersburg und Tallinn“ nahe, die in Kiel zu sehen ist

von FRANK KEIL

Gundega Espe hat früher bei Wind und Wetter die Post ausgetragen. Doch seit ein paar Jahren hat sie einen Job im Trockenen und Warmen – als Museumswärterin im National Museum of Art in Riga. Dort gefällt es ihr außerordentlich gut: die vielen schönen alten Bilder, die Besucher, die Ruhe, die hier den ganzen Tag herrscht – wunderbar. Nicht ganz so glücklich ist sie, wird aktuelle Kunst ausgestellt. Neulich etwa, da hing da ein Bild, ganz in Rot, wie aus Blut habe es gewirkt. Und in der Mitte sei etwas gewesen, wie eine Insel. Jedenfalls hätten sie und ein paar Freunde lange davor gestanden, erst gekichert und sich dann doch ganz ernst gefragt: Soll das etwa Kunst sein?

Es ist ein Interview-Video, das der estnische Künstler Mark Raidpere mit Gundega Espe und Gundegas vier Museumskolleginnen gedreht hat. Zu sehen ist es in der Ausstellung „Borderlives – zeitgenössische Kunst aus Helsinki, St. Petersburg und Tallinn“ in der Stadtgalerie Kiel: Dort wimmelt es von Fotoarbeiten, Filminstallationen und Videoloops, dafür hängt keine Malerei an den Wänden und stehen keine Skulpturen auf irgendwelchen Sockeln.

„Another Day with my Family“ nennt Marko Mäetamm seine großräumige Arbeit aus umgekipptem Stuhl, einer Spüle und zwei Filmprojektionen. Im Mittelpunkt aber steht eine Holzkiste in einem Kinderbettchen, mit zwei Spanngurten fest verschlossen. Ein Schlauch führt zu einem Kompressor, vielleicht pumpt er ja lebenserhaltenden Sauerstoff in die Kiste. Die Matratze ist jedenfalls mit einem Muster aus kleinen Totenköpfen bedruckt.

„Ich mag Kunst, bei der der Betrachter seinen ganz eigenen Weg gehen muss und nicht auf fertige Antworten hoffen darf“, sagt Mäetamm, der Estland bei der letzten Biennale in Venedig vertrat und der an der Kunsthochschule in Tallinn unterrichtet. Alles sei im Umbruch in seinem Lande, gesellschaftlich, ästhetisch und damit auch persönlich. Durch seine Studentenschaft etwa verlaufe ein tiefer Riss: „Die einen verstehen ihre Kunst explizit politisch und sind überwiegend mit soziologischen Fragestellungen beschäftigt; die andere Hälfte kann das alles nicht mehr hören und will sich mit der Kunst an sich beschäftigen – ohne jeglichen Bezüge zum politischen Alltagsleben.“

Was für sich gesehen noch nicht so dramatisch wäre, wäre Estland nicht so ein kleines Land, wo jeder jeden kennt und ihm noch mehr über die Schultern schaut: „Du kannst dich bei uns nicht für ein Jahr zurückziehen, deine Kunst machen und dann mit einem Ergebnis wieder an die Öffentlichkeit treten. Die Tür zu deinem Atelier steht für jeden jederzeit offen und ständig redet dir jemand rein.“

Wie es bei ihm selbst zugeht, zeigt die erste Filmprojektion: Ständig laufen die Kinder durchs Bild, quatschen dazwischen, wollen dies, wollen das, während er sich mal kurz zu konzentrieren sucht. Und hat er mal eine Idee, wie sich Familienleben und Künstlersein verbinden ließe, ist‘s auch nicht recht! Das zeigt der andere Film, Künstler und Frau und die zwei Kinder als zappelige Pappfiguren in einem Auto auf Einkaufsfahrt: Der Künstler will ein Trampolin kaufen, darauf könnten die Kinder hüpfen, während seine Frau still im Vordergrund sitzt, doch die hat nicht die geringste Lust als Material für seine Kunst zu dienen und so streiten und zanken sich die Erwachsenen, bis das kleine Pappauto irgend ein Tier überfährt und rote Farbe an die imaginäre Windschutzscheibe klatscht.

„Viele der Diskussionen, die derzeit in den baltischen Ländern geführt werden, hatten wir in Finnland in den 90ern“, sagt Ritva Röminger-Czako, die die Ausstellung zusammen mit Andreas Vowinckel kuratiert hat. „Etwa wie sich vereinbaren lässt, als Künstler zu arbeiten und eine Familie zu haben. Lange war das nur für die Frauen ein Thema, doch dann wurde es auch für die Männer wichtig“, sagt Röminger-Czako. Auch die absolute Dominanz audiovisueller Medien ist ihr aus Finnland vertraut. „Bei uns allerdings fangen die Leute wieder an zu malen.“

Ihr liegt besonders der Beitrag von Minna Rainio und Mark Roberts am Herzen: „Angles of Inicidence“ zeigt auf drei Videomonitoren leere Verhörräume an der Grenze, leere Blicke auf die Auffangzentren für Flüchtlinge und ebenfalls menschenleere Büros der finnischen Einwanderungsbehörde, während aus dem Off Einwanderer und Flüchtlinge von ihren Erfahrungen berichten. Denn wie auch das sich stets liebevoll-skurril gebende Island, praktiziert Finnland eine überaus rigide Einwanderungspolitik – was hierzulande kaum bekannt ist.

Noch einmal anders schwierig sei derzeit die Situation in Russland, wo die junge Kunstszene fast ausschließlich im Privaten agiere, sagt Röminger-Czako. Freundlich, aber nachdrücklich hat die Kuratorin in St. Petersburg lange nach den jungen KünstlerInnen fragen müssen: „Die offiziellen Stellen wollten, dass ich bewährte, etablierte Kunst wähle, aber mich interessiert ja die junge Kunst, die sich gerade von Vorbildern und Traditionen abgrenzt.“

Sie ist dann doch fündig geworden, wie die mehrteilige Fotoarbeit von Dmitry Shubin beweist: Vordergründig bedient dieser sich der Stilmittel der klassischen, recht strengen russischen Dokumentarfotografie, doch sein Konzept ist ein radikal anderes. Er hat im Internet europaweit nach Menschen gesucht, die fotografiert werden wollen. Sie allein haben anschließend bestimmt, wann und an welchem Ort und in welcher Körperhaltung sie sich fotografieren lassen. Erst nach und nach fiel ihm etwas auf: Die absolute Mehrheit seiner Portraitierten sind Migranten – auf der Suche nach einem neuen Ort, mit ihrer jeweils eigenen Geschichte im Rücken.

bis 10. August in der Stadtgalerie Kiel