berliner szenen Loretta und ich

Am Morgen im Hotel

Am nächsten Morgen wachte ich alleine auf. Mit schweren Wolken im Kopf. Draußen natürlich Fahnen, draußen Wetter. Drinnen Frankreich, 60 Watt. Die Fahnenstangen gaben ein kleines Konzert. Nachrichten aus gutem Hause. Es war nichts klar und alles so einfach.

Ein Telefon klingelte. Ich erinnere mich an ein Telefonat, ein verschwindendes Gewisper. Anrufverhalten überprüfen, hieß es von oben, ein leises Räuspern von Loretta lag in der Leitung, das fadenscheinige Ende: Sie ignorierte mein sexuelles Angebot, und ich saß wieder am Zweifelsee. Im Café an der Küste, am Rande des Jahrmarkts, im Hotelzimmer mit Blick auf eine Brackwand, rote Ziegelsteine, am Ende der Kindheit. Mit Blut in den Haaren und einer ausgelöschten Hoffnung im Körper. Immer diese Defensivstrategien, dachte ich. Nimm meinen Namen an und füttere meine Kinder. Das hätte ich sagen sollen. Das Verschweigen der Zweifel ist auch nur ein Trick, ein qualitativ Anderes im seelischen Ablauf.

Im Badezimmer rasierte ich mir den Kopf, ich rasierte mir die Arme – wann hatte ich aufgehört, gut auszusehen? Und warum? Musste ich jetzt die Taktik ändern? Laute Bezüge, feste Formen? Ich war noch im Geld, ich wollte noch einmal neu bespielbar sein, aber mit der Zeit wurde alles misslich, apokryph und iterativ. Die Zeigefinger der Polizisten, die Fingerzeige auf dem Jahrmarkt, ich träumte von einer Hotelbibliothek, aber die gab es hier nicht. Auch von Loretta fehlte jede Spur, war sie allein zurück in die Stadt gefahren? Vielleicht habe ich sie auch nur nicht mehr sehen wollen. Ich schickte mich an, auszuchecken, winkte danach einer Küstenstreife, dann einem Taxi. Zum Flughafen, bitte. Der Taxifahrer lächelte milde und fuhr an. RENÉ HAMANN