: Die große Lücke bleibt
Von neuen Lebensmöglichkeiten ist wenig die Rede beim Festival „Theater der Welt“ in Halle. Dabei leiden auch die Vorstadtjugendlichen in „X(ics)“ der italienischen Gruppe Motus an diesem Mangel
VON SIMONE KAEMPF
Vielleicht ist ja die prägende Erfahrung des In-der-Welt-Herumreisens heute gar nicht mehr, viele unterschiedliche Kulturen, Geschichten und Menschen kennenzulernen, sondern auf so viele Ähnlichkeiten zu stoßen. Eindrücke und geografische Zuordnungen verschwimmen jedenfalls, wenn man in Halle an der Saale durch Kopfsteinpflastergassen spaziert, entlang historischen Fassaden, die an vielen Orten stehen könnten. Erst die Innenstadtplattenbauten erinnern wieder daran, wo man sich geografisch und historisch befindet.
Auf der Bühne der Kulturinsel, Halles Stadttheater, sieht dann auch das Plattenbauviertel Halle-Neustadt in dem Video-Musik-Theaterprojekt „X(ics)“ nicht viel anders aus als das Niemandsland einer französischen Banlieue. Nach Valence und Ravenna ist Halle der dritte Ort, an dem die italienischen Regisseure Enrico Casagrande/Daniela Nicolò und ihre freie Theatergruppe Motus recherchiert haben. Ihr Projekt ist Teil des Festivals „Theater der Welt“, das noch bis Sonntag läuft, und viele der internationalen Künstler als artists in residence eingeladen hat, damit Beobachtungen aus der Stadt in die Projekte einfließen. Für diese lokale Verankerung hat es schon am Eröffnungswochenende viel Beachtung gegeben, und das erweist sich auch in der zweiten Festivalhälfte als geschickter Schachzug: Man erwartet in Halle eigentlich Graues, fühlt sich in der Stadt jedoch sofort wohl und streichelt ihr im Gegenzug die Seele.
Motus’ Schwarzweißaufnahmen im Hiphop-Look bilden auf der Bühne die Kulisse für eine Straßenchoreografie. Eine Skaterin mit Punkfrisur donnert gegen Bürgersteige, es wird auf Bassgitarren geklimpert, zwei Jungs in Anoraks liefern sich gegenseitig Mutproben, alles mit geschmeidiger Street-Coolness der Körper, während im Hintergrund die Bilder einer erstarrten Betonarchitektur den Rhythmus vorgeben.
Die versprochene „ortsspezifische“ Vielfalt von Zeichen und Klängen kann man zwar nicht entdecken, aber doch ein allgemeingültiges Gefühl, dass der Rest der Welt an solchen Orten nicht mehr das Sehnsuchts-, sondern das Hassobjekt von Heranwachsenden ist. Aus diesem Blickwinkel unterscheidet sich Halle-Neustadt nicht mehr von anderen Vorstädten, trotz seiner ganz eigenen Geschichte.
Kein Wort zu viel in „X(ics)“ von der Entstehung des Viertels als erste sozialistische Mustersiedlung. Der damalige Optimismus scheint wie eine tief begrabene Vergangenheit. Es ist die Unsicherheit, die weitervererbt wird. Kurz vor Schluss erzählt die Stimme einer Jugendlichen, die hier aufwuchs, dass sie bei der Wende sechs Jahre alt war und doch eine sehr genaue Erinnerung hat: daran, dass die Mutter und der Vater, der bei der Volksarmee war, ständig davon sprachen, wie es jetzt weitergehen soll.
Immer noch scheint die Frage, wie die Wende erlebt wurde, in Gesprächen mit Ostdeutschen unvermeidbar zu sein, wohl erst recht, wenn Künstler aus anderen Teilen der Welt anreisen und sich in der Geschichte auf Spurensuche begeben. Themen wie die hohe Arbeitslosigkeit, die Abwanderung oder Ausländerfeindlichkeit wirken auf dem Festival dagegen wie umschifft, als wolle man den Blick mehr auf die Reichtümer der Stadt lenken.
Von neuen Lebensmöglichkeiten ist wenig die Rede. Man sieht zwar einiges von Halle und Umgebung, fährt zum Flughafen oder in das nahe Kursdorf, das unter dem Ausbau des Flughafens leidet. Von den „Stadt(ver)- führungen“, die täglich stattfinden, nimmt man kulturhistorische Anekdoten mit nach Hause, dass in Halle ein Attentat auf Napoleon geplant wurde oder die Universität im 18. Jahrhundert den farbigen Privatdozenten Anton Wilhelm Amo beschäftigte. Aber von den heute in der Stadt lebenden Menschen erfährt man im Grunde wenig.
Stattdessen absurde Wiederholung von Geschichte. Massimo Furlan stellte im Kurt-Wabbel-Stadion neunzig Minuten lang das Fußballduell BRD – DDR nach, das am 22. Juni 1974 mit einem 0:1 endete. Kleine Transistorradios übertragen dazu die originalen Radiokommentare Ost und West, doch statt ideologie-entlarvend wirkt das eher wie ein Nostalgie-Angebot. Man darf beim Abspielen der DDR-Nationalhymne aufstehen, und verblüffenderweise erheben sich die Stadionbesucher tatsächlich von den Sitzen.
Auf der Trabbi-Rundfahrt, Teil der „Stadt(ver)führungen“, durch Halle-Ost bis zu Genschers Geburtshaus halten die neun Wagen an einer Bäckerei, um für die Kaffeepause Kuchen einzukaufen. Die künstlich erzeugte Schlange im Laden reicht bis auf die Straße, Alltagsleben in der Mangelwirtschaft. Die Trabbi-Fahrer, alles Schauspieler der Stadt, machen sich einen Witz daraus. Und doch sieht das nachgerade harmlos aus im Gegensatz zu der Entschlossenheit, mit der die israelische Regisseurin Yael Ronen in „Dritte Generation“ einen Schlussstrich unter die Vergangenheit setzen will. Deutsche, Israelis und Araber spielen auf der Basis von Improvisationen in Alltags- und Familienszenen Konflikte der Gegenwart nach, die den verhärteten politischen Positionen entsprechen. Niemand wird geschont, Klischees werden benutzt, Schwächen schonungslos aufgedeckt – ein Ausbruch aus den Zuschreibungen der Geschichte, von dem man in Halle gerne noch mehr gesehen hätte.