: Ein tödlicher Rückzug
Die Tat: Nicole G. (24) und Stefan T. (26) haben zugegeben, für ihre Tochter Lea-Sophie keine ärztliche Hilfe geholt zu haben, obwohl sie erkannt hatten, dass ihr Zustand lebensbedrohlich war. Das fünfjährige Mädchen hatte nach der Geburt seines Bruders im September 2007 die Nahrung verweigert und war bis auf 7,4 Kilogramm abgemagert. Als der Notarzt das Kind am 20. November auffand, hatte es Durchliegegeschwüre bis auf die Knochen, die Windel war nur mit chirurgischer Hilfe zu entfernen. Noch in derselben Nacht starb Lea-Sophie in einem Schweriner Krankenhaus an den Folgen ihrer Unterernährung.
Die Anklage: Die Staatsanwaltschaft des Landgerichts Schwerin wirft Nicole G. und Stefan T. Mord durch Unterlassen vor. Die Verteidigung hat auf Totschlag durch Unterlassen plädiert.
Das Strafmaß: Auf Mord steht lebenslängliche Freiheitsstrafe. Der Staatsanwalt wertete jedoch unter anderem als strafmildernd, dass die Eltern schließlich den Notarzt alarmierten. Er hat 13 Jahre Haft gefordert. GRÄ
AUS SCHWERIN FRIEDERIKE GRÄFF
Das Auffälligste an den beiden Angeklagten ist ihr Bemühen um Unauffälligkeit. Wenn Nicole G. hinter der Reihe der Anwälte zu ihrem Platz geht, muss niemand seinen Stuhl nach vorne rücken. Stefan T. bleibt wie ein Kind vor dem Justizbeamten stehen, der ihm die Handschellen abgenommen hat. „Geh“, sagt der Gerichtsdiener, und Stefan T. geht.
Nicole G. und Stefan T. sind wegen Mordes an ihrer Tochter Lea-Sophie angeklagt. Die Fünfjährige war im November letzten Jahres in einer Klinik an den Folgen ihrer Unterernährung gestorben. Sie wog 7,4 Kilogramm, das Dreifache wäre normal gewesen.
Das Landgericht in Schwerin soll nun herausfinden, was in jenem halben Jahr passiert sein mag, in dem niemand außer den Eltern das Kind gesehen hat. Wie es geschehen konnte, dass der Bruder, ein Säugling, in bester Verfassung war, die vielen Hunde, Meerschweinchen und Lurche in der Wohnung wohlgenährt, während die Durchliegegeschwüre der Tochter bis auf die Knochen reichten. Wie es dazu kommen konnte, dass der Vater den Rettungssanitäter begrüßte, indem er die Schuld dem Kind gab: „Sie hat uns schon seit Wochen geärgert.“
Während der ersten Prozesstage haben die Angeklagten, 24 und 26 Jahre alt, noch geschwiegen, sie haben auf einen niedrigen Punkt auf der gegenüberliegenden Holzvertäfelung gesehen. Nicole G. hält sich sehr aufrecht, sie trägt Schwarz und zerknüllt ein Papiertaschentuch in der Hand. Stefan T. ist reglos, nur sein Kiefer mahlt.
An ihr, der Mutter, ist das Interesse der Fotografen und Kamerateams spürbar größer. Nicht nur, weil sie die Bezugsperson des Kindes war, wie ihr Lebensgefährte früh betont hat. Sondern weil in den Augen der Außenwelt eine Mutter, die ihr Kind verhungern lässt, unvorstellbarer, monströser zu sein scheint als ein Vater, der dasselbe tut. Und weil sie ein Ideal von sich als Mutter hatte, das sich schließlich in sein Gegenteil verkehrt hat.
Nun hört sie zu, wie die Rettungssanitäter, Ärzte und Krankenschwestern beschreiben, wie sie das Kind antrafen. Stefan T. hatte am 20. November 2007 den Notarzt gerufen, weil er und Nicole G. Lea-Sophie leblos auf ihrem Stuhl vorgefunden hatten, so ihre Aussage. Die Sanitäter waren überrascht von der Teilnahmslosigkeit der Eltern, der Adrettheit des rosafarbenen Kinderzimmers – und entsetzt über den Zustand des Kindes.
Der Gerichtsmediziner wird später sagen, dass vergleichbare Fälle nur in Hungergebieten in Entwicklungsländern zu finden seien. Lea-Sophie habe greisenhaft ausgesehen, weil das Unterfettgewebe auch im Gesicht fehlte, das Haar war ihr ausgefallen. Ihr Bauch und die Beine waren kotverschmutzt, die Arme und Beine wegen Muskelverkümmerung kontrahiert, weshalb der Gutachter glaubt, dass das Kind „lange Zeit sehr ruhig in sitzender oder hockender Haltung verbracht haben muss“.
Norbert G. ist der Vater von Nicole G. Der kleine, energische Mann sitzt an jedem Prozesstag in der letzten Reihe. Vor den Pausen kommt er zur Tür, um sie zu umarmen, sie drängt sich, meist schon mit Handschellen, an ihn. Als Zeuge befragt, sagt er über sie: „Sie hatte wenig Selbstbewusstsein und Angst, es anderen auch recht zu machen.“ Er berichtet über ein Leben, das „immer ein bisschen behütet war“. So behütet, dass manchmal nicht viel eigenes Leben übrig blieb.
Nicole ist nicht sein leibliches Kind, sondern das seines Bruders. Ihre Mutter sagte nach der Geburt zum Ehepaar G.: „Ich habe schon so viele, es wird mir zu viel. Ihr könnt eines haben.“ Durch Zufall erfährt Nicole G. von ihrer Großmutter, dass sie ein Adoptivkind ist. „Wir haben den richtigen Zeitpunkt verpasst, es ihr zu sagen“, sagt Norbert G. dazu. Damit wählt er die gleichen Worte wie die Angeklagten, wenn sie gefragt werden, warum sie mit ihrer Tochter nicht zum Arzt gingen. Ihre leiblichen Eltern hat Nicole G. nur einmal gesehen, damals hielt sie sie für Bekannte.
Es scheint, als habe Nicole G. sich nur einmal nicht gefügt. Das war, als sie ihre Lehre als Bürokauffrau abbricht, um sich ganz um ihre Tochter zu kümmern. Um eine eigene Familie zu haben, mit Stefan T. Obwohl der seinen Dienst als Zeitsoldat quittiert und nach Schwerin zurückkehrt, verbringt Lea-Sophie ihr erstes Lebensjahr bei den Großeltern. Erst als die Eltern hören, wie sie den Großvater „Papa“ nennt, werden sie energischer in ihrer Forderung, das Kind zu sich zu holen. Stefan T. sucht sich dennoch keine Arbeit, Geld kommt vom Sozialamt und von den Großeltern. Von ihnen kommt selbst gekochtes Essen und Kritik an Stefan T., der ihnen zu streng mit dem Kind ist. Nicole G. hält mal zu der einen, mal zur anderen Seite.
„Sie glaubte, sie allein habe alles, was ihr Kind brauche“, wird der Gutachter über sie sagen, und dass sie ihr geringes Selbstwertgefühl über ihre Rolle als Mutter habe stützen wollen. Eben anders als ihre leibliche Mutter, die sie weggegeben hat, weil es ihr zu viel wurde mit all den Kindern. Die, so könnte man sagen, damals rechtzeitig die Notbremse zog. Um später, nachdem sich der Vater das Leben genommen hatte, einfach zu verschwinden.
Nicole G. und Stefan T. verwenden viel Kraft darauf, sich von den Großeltern G. abzugrenzen. Bei Lea-Sophies Auszug haben sie gesagt, das Kind werde, sobald es selbst entscheiden könne, zu ihnen zurückkommen. Die Eltern melden das Kind vom Kindergarten ab, weil sie ein Komplott mit der Leiterin vermuten. Sie gehen nicht zum Kinderarzt. Zweimal erscheint Norbert G. beim Jugendamt. Er findet seine Enkelin zu dünn und zu klein für ihr Alter. Er möchte wissen, ob sie, wie von den Eltern behauptet, tatsächlich wieder in einem Kindergarten angemeldet sei. Das Jugendamt fragt ihn, ob das Kindeswohl bedroht sei, erst dann könne man etwas tun. Norbert G. sagt aus, dass er seine erneut schwangere Tochter nicht belasten wollte. Als Nicole G. und Stefan T. von seinem Besuch beim Jugendamt erfahren, ziehen sie sich noch weiter zurück. Schließlich stellen sie sogar die Klingel ab; Freunde haben sie ohnehin nicht.
Am sechsten Prozesstag räumen Nicole G. und Stefan T. ein, um den lebensbedrohlichen Zustand ihrer Tochter gewusst zu haben. Zum Arzt seien sie nicht gegangen, weil sie fürchteten, man würde ihnen beide Kinder wegnehmen. Nicole G.s Anwalt stellt ihr Fragen, sie antwortet mit ihrer leisen freundlichen Stimme: Sie habe Lea-Sophie geliebt, „sie war ein ganz, ganz liebes Kind“. Alles sei normal gewesen, „sie hat normal gegessen, normal getrunken, gespielt“. Sie hätten Ausflüge zusammen gemacht, die Enten gefüttert. Lea-Sophie habe die Hunde sehr gemocht.
Aber als das Kind nach der Geburt des Bruders streikte, Schränke ausräumte und die Nahrung verweigerte, war sie nicht länger Bestätigung, sondern Bedrohung. Ein Kind, das sich verweigert, so mag es Nicole G. erschienen sein, verweist auf eine hilflose, überforderte Mutter. Statt sich die Überforderung einzugestehen, opferte sie das Kind.
Fragt man Kinderpsychiater nach vergleichbaren Fällen, schütteln sie den Kopf. Es gibt keine vergleichbaren Fälle, in der Regel wird Hilfe geholt. Es sei nicht ungewöhnlich, dass ein Kind nicht esse, zudem vergehe nach drei Tagen das Hungergefühl. Ungewöhnlich, so sagen die Kinderpsychiater, sei nur die Reaktion der Eltern.
Nicole G. und Stefan T. wollen Lea-Sophie ermahnt haben, vernünftig zu sein, zu essen. Sie haben Traubenzuckerlösung in einen Becher in ihr Zimmer gestellt. Sie redeten sich ein, dass es am nächsten Tag besser würde. Aber irgendwann muss dieses Kind für sie aufgehört haben zu existieren. Stefan T. sagt, dass er sich an den Anblick des abgemagerten Kindes gewöhnt habe. Er habe auch nicht mehr so oft ins Kinderzimmer gesehen.
Der psychiatrische Sachverständige erklärt, dass Stefan T. Konflikte meide, auf Kritik mit Rückzug reagiere. Dass er paranoide, schizophrene und selbstunsichere Persönlichkeitsanteile habe. Dass er dennoch vollständig schuldfähig sei. Und dass Stefan T. vielleicht nie auffällig geworden wäre, wenn er Berufssoldat bei der Bundeswehr und kinderlos geblieben wäre. Lebhaft soll er im Gespräch mit dem Psychiater nur einmal geworden sein: Als er erzählte, wie ihn Mitschüler wegen seines Ticks, einem Augenzwinkern, verspotteten. Großvater Norbert G. sagt, dass seine Tochter immer wieder überlegt habe, sich von Stefan T. zu trennen, der Playstation spielte, statt ihr im Haushalt und mit den Kindern zu helfen.
Auf eine Anzeige aus der Nachbarschaft hin, in der es heißt, man sehe den Säugling kaum draußen, klingelt das Jugendamt acht Tage vor Lea-Sophies Tod an der Haustür von Nicole G. und Stefan T. Vergeblich. Vermutlich war das Kind allein zu Hause. Am nächsten Tag erscheinen Nicole G. und Stefan T. mit dem Sohn. Lea-Sophie gehe es gut, versichern sie, sie würden sie bald dem Jugendamt vorstellen.
Der Staatsanwalt fordert in seinem Plädoyer für beide Angeklagten 13 Jahre Haft, wegen Mordes durch Unterlassen. Sie seien, anders als in vielen ähnlichen Fällen von Kindstötung, in ordentlichen Verhältnissen aufgewachsen. Die Verteidiger plädieren auf Totschlag durch Unterlassen und fordern jeweils acht Jahre Haft. Das Urteil wird am Mittwoch gefällt.
Justin, der Bruder von Lea-Sophie, lebt jetzt bei den Großeltern G.