: Wahlkampf mit Messerstechern
Die Wahl: In Glasgow East steht morgen eine Nachwahl an. Nachdem der bisherige Abgeordnete von seinem Unterhaussitz zurückgetreten ist, kandidiert Margaret Curren, 49, für ihn. Die seit der letzten Wahl erstarkte Scottish National Party (SNP) schickt John Mason, 51, ins Rennen. Sollte er gewinnen, würde das als Schwäche von Premier Brown angesehen, Labour könnte versuchen, ihn als Sündenbock loszuwerden.
Der Wahlkreis: Glasgow East ist einer der ärmsten Wahlkreise im Vereinigten Königreich. Die Bildungsrate ist hier am niedrigsten, die Rate alleinerziehender Mütter und Erwerbsunfähigkeitsrentner am höchsten.
Die Prognose: Glasgow East war stets eine Labour-Hochburg. 2005 holte die Partei 60 Prozent, die SNP 17. Diesmal liegt die SNP laut Umfragen bei 33 Prozent, Labour bei 29, die Tories bei 20. Für die Unabhängigkeit, das wichtigste Ziel der SNP, sind jedoch nur 36 Prozent.
AUS GLASGOW RALF SOTSCHECK
Der grüne Drache mit der roten Irokesenfrisur spurtet über den Spielplatz und fällt Margaret Curran um den Hals. Die 49-jährige schlanke Frau ist überrascht, dann aber legt sie ihren Arm um den Mann im Kostüm und posiert für die Fotografen. Extra für ihren Medientermin in Easterhouse im Osten Glasgows hat man den Spielplatz aufgehübscht. Aufblasbare Spielgeräte stehen hier, gerade versuchen zwei Achtjährige, sich mit Plastikrammböcken gegenseitig von ihrem kleinen Podest zu schubsen. Margaret Curran feuert die beiden Gladiatoren vom Rand aus an, aus einer Stereoanlage wummert Technomusik.
Der Spielplatz gehört zum Gladiator-Programm, einem Sozialprojekt, das vom Stadtrat, der BBC und der Lotteriegesellschaft finanziert wird. Easterhouse ist eins der benachteiligtsten Viertel der größten Stadt Schottlands, benannt nach einem Bauernhof, der früher hier lag. Der ist längst den Sozialbauten gewichen, die Mitte der fünfziger Jahre gebaut wurden und damals als modern galten, weil sie Innentoiletten hatten. In den sechziger Jahren lebten hier 56.000 Menschen, heute sind es noch 32.000. Das Viertel ist berüchtigt für soziale Probleme, hohe Arbeitslosigkeit, Drogenmissbrauch und Jugendbanden. Ausgerechnet hier soll sich die Zukunft des britischen Premierministers Gordon Brown entscheiden?
Gut möglich. Morgen wählt Glasgow East seinen Unterhausabgeordneten. Die Nachwahl ist notwendig, weil der 67-jährige Labour-Politiker David Marshall Ende Juni aus gesundheitlichen Gründen zurückgetreten ist. Ein ungünstiger Zeitpunkt für Brown: Nachdem Labour im Mai und Juni die beiden Nachwahlen in Crewe und Henley mit Pauken und Trompeten verloren hat, kann er sich eine Niederlage in dieser Labour-Hochburg nicht mehr leisten. Hinterbänkler sagen unverhohlen, dass Brown noch vor dem Parteitag Ende September gehen müsse, sollte diese Nachwahl verloren gehen.
Aber kann Labour überhaupt verlieren? Marshall gewann 2005 bei den Unterhauswahlen mehr als 60 Prozent der Stimmen, die separatistische Scottish National Party (SNP) kam nur auf 17 Prozent. Doch seitdem hat die SNP den Abstand kontinuierlich verringert, nach letzten Umfragen ist Labours Vorsprung auf wenige Prozent geschmolzen. Die anderen Parteien spielen keine Rolle. Jetzt muss Labour sich mächtig ins Zeug legen.
Currans wichtigstes Thema ist die Verbrechensrate. „Wir werden die Zahl der Polizisten verdoppeln“, sagt sie. „Außerdem müssen die Beamten wieder Streife gehen, statt in Autos herumzufahren. Dadurch bekommen sie viel besser mit, wenn sich etwas zusammenbraut. Wir brauchen mehr Überwachungskameras auf den Straßen, die polizeibekannten Drogenhändler dürfen keine ruhige Minute haben. Und wer ein Messer zückt, wandert automatisch ins Gefängnis.“
Messerstechereien kommen in den meisten britischen Städten hin und wieder vor, aber in Glasgow sind sie an der Tagesordnung. Gerade wurde ein Mann bei einem Open-Air-Konzert durch Messerstiche lebensgefährlich verletzt. „Das East End hat große Probleme, aber hier liegen auch die Antworten“, erklärt Curran, darauf angesprochen. „Das Gladiator-Programm zum Beispiel holt die Kinder von der Straße weg, so dass sie sich später keinen Banden anschließen.“ Vierzig Jugendliche mit krimineller Vergangenheit arbeiten inzwischen in dem Projekt.
Curran unterhält sich mit Tom. Der 17-jährige hat sein Drachenkostüm abgelegt, jetzt macht er Pause im Flachbau neben dem Spielplatz. Das Gebäude sieht trostlos aus, die rote Farbe ist abgeblättert, die Fenster sind verrostet, aber Tom fühlt sich hier wohl. „Ohne Gladiator wäre ich auf der Straße gelandet“, sagt er zu Curran. „Ich arbeite seit einem Jahr hier, und den Kids macht es Spaß.“
Großartige Zukunftsaussichten hat man hier nicht. Die Lebenserwartung ist in Easterhouse vierzehn Jahre niedriger als im Landesdurchschnitt, die Zahl der Herzerkrankungen doppelt so hoch. Fast die Hälfte der Erwachsenen ist arbeitslos, zwei Drittel haben kein Auto – und zwar nicht aus ökologischen Gründen. An der Misere werde sich auch nichts ändern, glaubt der alte Jack McMurray, der sein ganzes Leben in Easterhouse gewohnt hat und Currans Auftritt aus sicherer Entfernung beobachtet. „Jetzt fallen sie wie die Heuschrecken über uns her“, sagt er. „Und wenn die Wahl vorbei ist, lässt sich von den Politikern keiner mehr hier sehen.“ Er wird gar nicht wählen. „Wozu?“, fragt er und zuckt mit den Schultern.
Gordon Brown kann das nur recht sein. Je niedriger die Wahlbeteiligung, desto größer sind Labours Chancen. Er hat den Wahltermin deshalb mitten in die Ferien gelegt. Außerdem kann sich die finanzschwache Partei keinen langen Wahlkampf leisten, es geht jetzt nur noch ums Überleben. Die schottische Labour Party ist in einem maroden Zustand. Ende Juni musste Parteichefin Wendy Alexander wegen einer Spendenaffäre zurücktreten, ein Nachfolger wird erst im September gewählt. Hinzu kam, dass der Wunschkandidat für Glasgow East, der Stadtratsvorsitzende Steven Purcell, abwinkte. Und als man glaubte, in George Ryan endlich einen Kandidaten gefunden zu haben, sprang der kurz vor der Pressekonferenz noch ab. So fiel die Wahl auf Margaret Curran. Sie ist überzeugt, sagt sie, die Wahl zu gewinnen.
Glasgow East hat bisher immer Labour gewählt. Die Partei war sich ihrer Sache so sicher, dass sie nie einen echten Wahlkampf oder Wähleranalysen gemacht hat. Sie weiß nicht, wer sie gewählt hat und wer die Wackelkandidaten sind, die bei der Stange gehalten werden müssen.
Sie SNP dagegen hat ihre Hausaufgaben gemacht. Im provisorischen Wahlkampfbüro in Baillieston, einer der wenigen wohlhabenderen Gegenden im Wahlkreis, liegen die Ordner bereit, in denen jeder Wähler und sein Wahlverhalten, sofern er es verraten hat, verzeichnet sind. Vor dem billigen Fertigteilhaus stehen teure Autos herum, keins unter 30.000 Pfund – das Gelände gehört einem Autohändler. In der Garage steht ein hellblauer Lamborghini ohne Preisschild. „Den bekommt der fleißigste Wahlhelfer“, sagt John Mason, der SNP-Kandidat, zu seinem Team.
Mason sitzt seit 1998 für Baillieston im Stadtrat von Glasgow, seit achtzehn Jahren wohnt er im Stadtteil. Der 51-jährige schmächtige Mann mit den schütteren Haaren und der randlosen Brille wirkt wie ein Buchhalter. Das war er auch, bevor er in die Politik ging. Er ist Baptist, was ein Nachteil sein könnte im vorwiegend katholischen Ostglasgow. Mason gilt als Hardliner, was die schottische Unabhängigkeit angeht. „Aber wer in der SNP ist das nicht?“, fragt er.
Auch für ihn sind die Jugendbanden mit ihren Messern das Wahlkampfthema Nummer eins. „Wir müssen schärfer gegen Messerstecher vorgehen“, sagt er. „Aber dass man die Täter in die Notaufnahmen schicken soll, um sie mit den Opfern zu konfrontieren, wie Gordon Brown es vorschlägt, halte ich für keine gute Idee. Das ist den Opfern kaum zuzumuten.“ Dass er derjenige sein könnte, der Brown den Gnadenstoß verpasst, interessiere ihn nicht, sagt er. „Wenn Brown geht, kommt ein anderer Labour-Premier. Blair und Brown unterscheiden sich kaum, und Browns Nachfolger wird sich auch nicht sonderlich unterscheiden.“
Nachwahlen sind normalerweise eine Gelegenheit, der Regierung einen Denkzettel zu verpassen. Doch diesmal treten zwei Regierungsparteien gegeneinander an. Eine regiert in London, die andere in Edinburgh. Während Browns Labour Party bei Umfragen einen historischen Tiefstand erreicht hat, genießt die schottische Minderheitsregierung von SNP-Chef Alex Salmond gut ein Jahr nach ihrem Amtsantritt große Popularität. Im Gegensatz zu Brown, der sich nicht in Glasgow sehen lässt, ist Salmond fast täglich unterwegs, um für Mason zu werben. Hunderte SNP-Aktivisten sind aus dem ganzen Land nach Glasgow gekommen, um beim Wahlkampf zu helfen.
Calum Cashley ist einer von ihnen. Der 41-jährige große Mann, über dessen mächtigem Bauch ein blaukariertes Hemd spannt, ist SNP-Kandidat für Nordedinburgh. Um Mason zu helfen, hat er seinen Urlaub abgesagt und geht nun in der Sandaig Road auf Wahlkampf. Gibt es manchmal Ärger? „Heute nicht mehr“, erzählt er. „Früher, vor zwanzig Jahren, war das anders. Da haben wir in den Hochhäusern immer oben angefangen, damit wir nach unten flüchten konnten, falls es brenzlig wurde.“
Cashley hat schon mit zwölf Jahren Flugblätter für die SNP verteilt, sein Vater war Parteimitglied. Wahlkampf ist ein mühsames Geschäft, vor allem, wenn die Häuser über Gegensprechanlagen verfügen. „Da wimmeln sie dich oft schon vor der Haustür ab.“ Außerdem scheint jeder zweite hier einen Hund zu besitzen. „Einer der Labour-Wahlhelfer ist vorhin gebissen worden“, erzählt Cashley nicht ohne Schadenfreude.
Auch für ihn läuft es nicht so gut. Die einen müssen ihren Hund füttern und haben keine Zeit für ein Gespräch, die anderen wollen nicht wählen, manche versprechen aus Höflichkeit, wenigstens über die SNP nachzudenken. Erst im neunten Anlauf hat Cashley ein halbes Erfolgserlebnis. Die etwa 50-jährige Bewohnerin sagt, sie habe bisher immer Labour gewählt. „Von mir bekommen die aber keine Stimme mehr. Die haben nichts für uns getan.“ Wird sie nun SNP wählen? „Vielleicht wähle ich gar nicht“, sagt sie zu Cashleys Enttäuschung, „ich glaube keinem Politiker mehr.“
An Haus Nummer 88 geht Cashley vorbei. „Diese Stimme ist uns sicher“, sagt er. „Hier wohnt John Mason.“