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Archiv-Artikel

„Man bekommt mehr Mut zur Archaik“

Sie jodeln und tuten moderne Musik und touren damit um die Welt: Das Schweizer Stimmhorn-Duo tritt heute mit dem tuvinischen Huun-Huur-Tu-Ensemble, das gleichfalls Obertongesänge bietet, bei den Sommerlichen Musiktagen in Hitzacker auf. Jodler Christian Zehnder erklärt, wofür das gut ist

INTERVIEW PETRA SCHELLEN

taz: Herr Zehnder, warum wird an Nord- und Ostsee eigentlich nicht gejodelt?

Christian Zehnder: Das hat sicherlich etwas mit dem Echo zu tun. In der Schweiz etwa singt und ruft man ja letztlich immer gegen die Berge an. Die bieten einen akustischen Widerstand, wenn man gegen sie anjuchzt. Die Berge werfen die Rufe des Menschen zurück – und das ist der Moment, in dem sich die Stimme zu überschlagen beginnt, woraus wiederum der Jodel entsteht. Die Entstehung dieser Gesangsform hängt also mit der alpinen Topographie zusammen. Wenn man dagegen am Meer steht und ruft, kommt ja relativ wenig zurück…

Erwächst das Jodeln also aus der puren Lust am Echo?

Nein. Die vielen Formen – auch das Juchzen und das Johlen etwa – sind Ausdruck emotionaler Befindlichkeiten und dienten ursprünglich der Kommunikation. Da wohnten zum Beispiel Familien auf beiden Seiten eines Tales. Und um zum Gespräch nicht immer das Tal herunter und wieder hinauf steigen zu müssen, hat man angefangen sich etwas zuzurufen.

Aber das Vokabular ist ja nicht sehr groß…

Nein. Das Jodeln ist aber auch keine Sprache im engeren Sinne, sondern eine Ansammlung vorsprachlicher Laute, die emotionale Befindlichkeiten ausdrücken. Da gibt es zum Beispiel den Freuden-Jodel. Eine andere Variante ist das Juchzen, das die Käseherstellung begleitet – die „Jodelkehre“: ein wiederkehrender Reim, der den Käse besser machen soll. Man muss also unterscheiden zwischen dem unmittelbar emotionalen Jodel und dem Jodel, der bei rituellen Angelegenheiten eingesetzt wird.

Wie sind diese vorsprachlichen Laute entstanden?

Aus den menschlichen Gebärden. Wenn man zum Beispiel eine Anstrengung unternimmt, keucht man ganz von selbst – „juch“, „juch“ oder „hio“, „hio“ etwa. Beim Bergsteigen oder bei schwerer Arbeit falle ich automatisch in diese Laute hinein.

Und aus diesen Lauten, garniert mit ein paar Obertönen, bestreiten Sie ihre Konzerte?

Nicht ganz. Wir treten ja als Duo auf, wobei mein Partner, Balthasar Streiff, Alphorn aber auch andere Tuten und Trompeten spielt. Er spielt sie allerdings nicht auf traditionelle Weise, sondern versucht neue Techniken zu entwickeln, indem er während des Hornspiels zusätzlich singt, sodass Vielstimmigkeit entstehen kann. Was mich betrifft, nutze ich verschiedene Gesangstechniken von der Klassik über den Jodel bis zum Obertongesang. Wir spielen aber keine traditionellen Schweizer Musikstücke, sondern schaffen moderne Eigenkompositionen. Wir wohnen ja auch in Basel und nicht in den Bergen. Trotzdem haben wir natürlich Erinnerungen an Instrumente und Techniken aus der alpinen Region.

Ihre Musik basiert also auch auf Kindheitserinnerungen?

Ja. Das sind Dinge, die einen prägen – ob man will oder nicht. Als Kind hat man diese ganzen Jodelgeschichten und Alphörner eher von sich gewiesen. Wir haben diese Dinge erst später wieder entdeckt. Denn ein Fundus im Unterbewusstsein ist da natürlich schon: Als Schweizer verbringt man sehr viel Zeit in den Bergen und hört dort auch diese Gesänge.

Basieren Ihre Kompositionen auf diesen traditionellen Melodien?

Nein, unsere Kompositionen sind modern. Es gibt aber immer wieder Querverweise auf traditionelle Musik, aber auch auf Jazz und Klassik. Die Grenzen sind fließend. Auch die Volksmusik selbst wurde ja immer beeinflusst von anderen Stilen, auch das Jodeln selbst. Wenn die Bauern etwa in die Kirche gingen, ließen sie sich von den dortigen Gesängen beeindrucken und versuchten die später zuhause auf der Alb in Jodel umzusetzen.

Sind Ihre Kompositionen atonal?

Nein. Aber wir arbeiten untemperiert, verwenden also die Naturtonreihe. Das heißt, dass unsere Instrumente und Gesänge untereinander stimmig sind, aber nicht mit einem Klavier zusammen spielen könnten. Das klänge schief, weil die Instrumente verschieden gestimmt sind.

Ihre Konzerte sind also tief ernste Musikdarbietungen.

Nein, da ist immer auch ein bisschen Performance. Ich versuche jodelnd Geschichten zu erzählen, und das bringt mich in eine schauspielerische Gestik und Mimik hinein. Auch in Dialoge mit meinem Partner. Und die sind oft sehr theatralisch. Wir lieben das Drama und spielen mit der Unsicherheit, ob das jetzt lustig oder tragisch ist und ob man darüber lachen darf.

Nehmen Sie die Schweizer traditionelle Musik überhaupt ernst?

Wir haben großen Respekt vor allen, die die Tradition bewahren wollen. Wir vergleichen uns auch nicht mit den traditionellen Jodlern. In der Schweiz wird unsere Musik nicht als Konkurrenz zur Volksmusik empfunden.

Warum ist es Ihnen so wichtig, moderne Musik auf traditionellen Instrumenten zu spielen?

Da hat etwas mit der eigenen Verortung als Musiker zu tun. Denn es stellt sich ja immer die Frage: Mit welchem Fundus arbeite ich, woher nehme ich meine Inspiration? Wo ist mein Platz? Als Duo haben wir da eine gute Mixtur gefunden: Mit unseren Instrumente und Techniken bleiben wir quasi zuhause, mit unseren Kompositionen sind wir international.

Sie treten heute mit dem mongolischen Huun-Huur-Tu-Ensemble auf, das auch mit Obertongesang arbeitet. Welchen Erkenntnisgewinn versprechen Sie sich davon?

Das verbindende Element ist natürlich der Obertongesang. Ich singe allerdings in einer – jüngeren – europäischen Technik, während Huun-Huur-Tu den Kehlkopfgesang praktiziert. Außerdem sind ihre Stücke archaisch und unsere frisch komponiert. Das erzeugt eine große Spannung.

Können Sie von den tuvinischen Musikern lernen?

Natürlich: einerseits technisch, aber auch aus der Konfrontation mit dieser Tradition. Die mongolischen Musiker sind sehr stolz auf ihren Fundus archaischer Musik. Unsereiner fällt bei solch einer Begegnung immer ein bisschen auf sich selber zurück. Man wird bescheiden. Und man bekommt mehr Mut zur Archaik.

Das Konzert „Tuvinische Stimmen in den Alpen“ mit den Ensembles Huun-Huur-Tu und Stimmhorn ist heute um 19.30 Uhr im Verdo-Konzertsaal in Hitzacker zu hören.

Interviewhinweis:CHRISTIAN ZEHNDER, 46, Jodler, Komponist und Stimmpädagoge, hat 1996 das international tourende Duo Stimmhorn gegründet.