: Ostdeutsche pendeln am weitesten zur Lehrstelle
150 Kilometer Weg zum Ausbildungsplatz ist laut einer Studie für Ostdeutsche normal, für Westdeutsche 30 Kilometer
BERLIN taz ■ Generation Bahnhof: Fast die Hälfte aller Azubis muss für eine Ausbildung vom Heimatort aus pendeln. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, das zur Bundesagentur für Arbeit gehört. Die Studie zeigt eine erstaunliche Mobilität vor allem ostdeutscher Jugendlicher.
Während westdeutsche Azubis im Schnitt 30 Kilometer zum Ausbildungsplatz pendeln, sind es in Ostdeutschland 150 Kilometer und mehr. „Die zumutbare Pendelzeit liegt bei 45 Minuten pro Tag“, erklärt Holger Seibert, einer der Verfasser der Studie. „Unseren Daten zufolge liegen die Jugendlichen meist darüber.“
Die Studie basiert auf Daten der Arbeitsagenturen. Erfasst sind Jugendliche in sogenannten dualen Ausbildungsverhältnissen, also Schulungen, verbunden mit Arbeit in einem Ausbildungsbetrieb. Nicht berücksichtigt sind oft mobile Studenten und Berufsschüler. Normalerweise ziehen Jugendliche auf der Suche nach einem Ausbildungsplatz in die nächste Stadt. Kreisstädte von 50.000 Einwohnern oder mehr werden so zu regionalen Ausbildungszentren.
Doch diese Stadt-Umland-Symbiose war nicht Gegenstand der Studie. Seibert und seine Kollegen haben erforscht, wie viele Jugendliche die Arbeitsmarktregion um ihren Heimatkreis verlassen müssen. In den alten Bundesländern betrifft dies ein Drittel aller Azubis, in Ostdeutschland sogar die Hälfte.
Bemerkenswert ist, dass ostdeutsche Azubis oft auch ihr Bundesland verlassen. Von den Auszubildenden, die mit einem Wohnort in Brandenburg gemeldet sind, hat ein Viertel den Ausbildungsplatz außerhalb der Landesgrenzen, in Sachsen-Anhalt ist es fast ein Fünftel. „Das ist schon länger ein Problem“, bestätigt Ingrid Dede vom Institut für Wirtschaftsforschung in Halle. „Entweder studieren die Jugendlichen hier und sind danach weg, oder sie gehen gleich.“
Die Azubis in Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg und Bayern hingegen verlassen nur sehr selten das eigene Land. Ausnahmen gibt es nur, wenn größere Städte an der Landesgrenze liegen. Damit erklärt sich teilweise die länderübergreifende Mobilität der Thüringer, Brandenburger und Sachsen-Anhalter. In die Stadtstaaten Berlin, Bremen und Hamburg pendeln dafür viele zur Lehrstelle. Als am mobilsten bei der Ausbildung erwiesen sich ostdeutsche Frauen. „Sie legen erkennbar weitere Distanzen zurück als die Männer“, erklärt Seibert.
Land- und Frauenflucht aus dem Osten? „Wir sehen das als positiv an“, resümiert Holger Seibert. „Wenn wir die Mobilität der ostdeutschen Jugendlichen nicht hätten, wäre die Lage auf dem Ausbildungsmarkt wesentlich angespannter.“ Durch ihre Flexibilität federten die Ostdeutschen den Lehrstellenmangel in den neuen Ländern ab.
Sie sind möglicherweise auch der Grund, warum der seit Jahren prognostizierte Fachkräftemangel in Ostdeutschland bisher nicht eingetreten ist. Das jedenfalls ist das Fazit der Untersuchung: „Junge Leute aus strukturschwachen Gegenden, die zur Ausbildung in andere Regionen pendeln, sichern heute den Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften, der morgen in ihren Heimatregionen entstehen wird“, heißt es in der Studie. Dabei setzen die Wissenschaftler jedoch voraus, dass die Azubis in die strukturschwachen Gegenden zurückkehren – und dort Arbeit finden, wo es zuvor keine Lehrstellen gab. CORNELIA KÄSTNER