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Archiv-Artikel

Dichter in Dünen V Das syltische Prinzip

Der österreichische Schriftsteller Franzobel lebt und arbeitet im Rahmen eines Literaturstipendiums auf der Insel Sylt. Für die taz nord schreibt er regelmäßig auf, was ihm als Inselschreiber widerfährt

Haben Sie auch so viele Zahlen im Kopf? Telefonnummern, Kontonummern, IBAN, BIC, Steuernummer, Fahrradschloss, den Code fürs Handy, für die Bankomatkarte, für den Mail-Server, Sozialversicherung, Geburtstage, Hochzeitstage, Pin. Und haben Sie auch manchmal die Angst, dass plötzlich alle Nummern durcheinander geraten könnten, Sie nach so einem innerlichen Kassensturz völlig haltlos in der Welt stehen, alles vergessen haben? Auf Sylt wird diese Angst vorm Zahlenchaos nicht gemildert. Im Gegenteil, indem zwar alle Strandkörbe mit großen aufgesprayten Ziffern nummeriert sind, aber nach keinem erkennbaren Prinzip, wird jeder Strandspaziergang zu einem Spießrutenlauf durch Nummern. Da steht ein Strandkorb mit der 64 neben der 354 und der 598, dann kommt 12 vor 735 und 48, usw. Wahrscheinlich gibt es eine Erklärung für dieses Durcheinander, ein geheimes syltisches Prinzip, Friesenmathematik. Oder hat sich einfach jemand einen Scherz erlaubt?

Ich vermute, es ist ein Experiment der Chaostheorie. Irgendwann wurden alle 1241 Strandkörbe der Insel durchnummeriert – und nun beobachtet man die geheimen Wege dieser Strandbehausungen, die sich nach ihren eigenen Regeln – wie die Wale in den Ozeanen, die Zugvögel über Europa – von Hörnum bis List verteilen. Oder will man damit einfach die Touristen verwirren, ähnlich den Tschechen, die bei einem Einmarsch – ‘38 oder ‘68? Oder bei beiden? – alle Straßenschilder ihrer Städte vertauschten, was bewirkte, dass sich die Besatzer nicht zurechtfanden.

Ob der Erfinder der Strandkörbe ausgelacht und als Körbchenfixierter verspottet worden ist? Hat seine Frau gefroren? Wollte sie gern ins windgeschützte Kistchen gehen, in das Nest für Menschen, oder fühlte sie sich wie ein Hund? Wie lange gibt es Strandkörbe? Wer hat sie erfunden? Ein Däne mit dem schönen Namen Strand Gustav Körbe? Durch die Isolation des Strandkorbs wird das Inseldasein auf den Punkt gebracht? So vergisst man doppelt, dass es auch noch eine Welt außerhalb der Insel gibt, ein Festland. Der Strandkorb vermittelt einem das Gefühl der Kinderwiegen-Geborgenheit mitten in der Ausgesetztheit einer Insel. Nur in der kalten Jahreszeit sind alle weg, da verkriechen sich die Strandkörbe in ihren Höhlen, sammeln sich nach ihren Nummern, halten Winterschlaf. Es gibt Zweier- und Dreierstrandkörbe. Ob es auch Einer gibt, weiß ich nicht.

Jetzt aber, Anfang September, stehen sie noch am Strand. Manche werden nachts verriegelt, in die meisten aber kann man sich setzen, um vom Meer, dem Leben und der Welt der Zahlen zu philosophieren. Ich bin ein Strandkorbmensch, passe gut hinein, fühle mich dort wohler als in einer bayrischen Zirbenholzstube, wohler als in einem Beduinenzelt. Die angenehmsten Strandkörbe gehören zur Strandbar Samoa, einer Sansibar für Halbgestopfte, wo es wunderbaren Babysteinbutt gibt, Thunfischcarpaccio beinahe so gut wie in Harrys Bar zu San Marco, wo es erfunden worden und unerschwinglich ist. Auch Labskaus gibt es da bei den Samoa-Rittern, dieses seltsame, nach corned beef schmeckende Matrosenessen, eine wunderbare Bouillabaisse (?), Crème Brûllée, nur beim Apfelstrudel ist der Teig etwas zu dünn, dafür ist die Vanillesoße warm und reichlich. Außergewöhnlich freundlich ist auch die Bedienung, junge Schatzis, wenn man Glück hat, kriegt man, was einem auf Sylt sonst nicht so oft passiert, sogar etwas spendiert.

Das ist Glück. Draußen die Dünen, das Meer, der Wind. Man selbst in Decken eingehüllt im Strandkorbnest, geschützt gegen alle Anfechtungen des Alltags, kulinarisch gut versorgt, sicher vor der Welt. Sogar Rauchen ist im Strandkorb noch erlaubt. Es gibt auch keine halblustigen Schilder, wie sie in Wien bei meinem Fahrradhändler hängen: „Ich mag Sex bestimmt genau so gern wie Sie das Rauchen. Aber bumse ich in Ihrem Büro? Also rauchen Sie auch nicht in meinem.“ Doch davon nichts. So war mir bei den Samoa-Rittern oft zumut wie in einem nordischen Hospiz. Nur wenn es dann ans Bezahlen ging, die Rechnung kam, waren die Nummern wieder da, gerieten durcheinander, erzählten von Kontostand-Gezeiten, von Codes und Nummern – und natürlich davon, dass Sylt ein ziemlich teures Pflaster ist. Auch wenn es dieses Pflaster nur als Sandstrand voller Körbe gibt, ist das auch ein Trost. FRANZOBEL