: „Virtueller Reiseführer durch die Welt des Dschihad“
BERNDT GEORG THAMM, 61, ist als Publizist tätig und klärt als Referent für Weiterbildung über „Dschihad-Terrorismus“ auf. Er schult Beamte an den Landespolizeischulen sowie Soldaten der Bundeswehr zum Thema. Thamm ist Autor zahlreicher Fachaufsätze und Bücher.
INTERVIEW CIGDEM AKYOL
taz: Herr Thamm, seit den Anschlägen 2001 werden die Onlineaktivitäten von Islamisten genauestens beobachtet. Wie sah die Situation vor 9/ 11 aus?
Berndt Georg Thamm: Natürlich haben Islamisten vor 9/ 11 das Internet genutzt, allerdings wurde das nicht so zur Kenntnis genommen, und sie waren nicht in der Quantität vertreten wie heute.
Es gibt heute also mehr fundamentalistische Homepages?
Ja, 1998, bei den schlimmen Anschlägen der al-Qaida in Ostafrika auf die US-Botschaften gab es lediglich zwölf Websites mit einem Dschihadbezug. 2001 waren es mehrere Dutzend und 2005 wurden schon über 4.500 Websites gezählt …
… Zahlen vom Simon-Wiesenthal-Zentrum …
… im letzten Herbst zählte man dann über 5.800 Websites, und in diesem Jahr sind es schon weit über 6.000. Diese Zahlen zeigen, dass das Netz genutzt wurde und genutzt wird, um das Gedankengut des „heiligen Krieges“, des Dschihad, zu globalisieren.
Andererseits wurde im Rahmen einer Studie von Radio Free Europe kürzlich festgestellt, dass es vor allem einzelne Homepages sind, die mit brachialen Videos Aufsehen erregen. Wird die Gefahr des sogenannten Cyberdschihad nicht auch aufgebauscht?
Wir dürfen jetzt eins nicht machen: die Potenz des Cyberdschihad mit der Potenz des realen Dschihad-Terrorismus vergleichen, das Netz stellt nur ein Mittel zum Zweck für engagierte Fundamentalisten weltweit dar. Es ist eine Waffe unter mehreren. Deutlich wird dies am Beispiel der al-Quaida, die in der zweiten Hälfte der 90er-Jahre ihren Höhepunkt hatte. Die tauchten mit Beginn der Operation „Enduring Freedom“ 2001/ 2002 ab und danach virtuell wieder im Netz auf. Aber daneben gibt es wieder eine nun reanimierte Militärorganisation, die nicht mehr so kopfstark ist, aber noch hoch einflussreich – völlig unabhängig von der Nutzung des Netzes. Deswegen können wir nicht davon ausgehen, sollte ein Medium nicht mehr allzu stark genutzt werden, dass damit auch der Niedergang der ganzen Bewegung einhergeht. Es spricht sehr viel mehr dafür, dass wir es heute mit einer globalen Bewegung zu tun haben, wo sehr viele nach eigenem Gusto – es gibt ja kein Zentralkommando – arbeiten.
Wie haben sich denn die Inhalte im Netz über die Zeit gewandelt?
Diese sind den Erfordernissen des Dschihad angepasst worden. Ursprünglich war das Internet mehr ein Instrument der offenen und verdeckten Kommunikation, um zielgruppenspezifische Botschaften zu verbreiten. Heute wird das Netz für die Informationssammlung, Radikalisierung der Gesinnung und für die Rekrutierung von Nachwuchs und deren Ausbildung, für die Öffentlichkeitsarbeit, Propaganda, Spendensammlung, Netzwerkarbeit, Mobilisierung und Planung von Operationen sowie der psychologischen Kriegsführung benutzt. Nicht zu vergessen, dass das Netz die Möglichkeit bietet, sich als virtuelle Einheit darzustellen. Niemand muss sich mehr allein fühlen. Für die Kämpferwerbung gibt es inzwischen auch Websites, die auf Frauen, aber selbst auf Kinder und Jugendliche zugeschnitten sind.
Wie schauen solche Seiten aus?
Kinder werden beispielsweise mit Comics gelockt, die die Botschaften des Hasses und des Märtyrertums verbreiten. Für Frauen gibt es Programme, die aus streng Gläubigen radikale und weiterführend gewaltbereite Islamistinnen machen wollen. Selbst die kleinste Gruppe wird über die Angebote Teil der virtuellen Umma, einer weltweiten Gemeinschaft der „Heiligen Krieger“.
Finden sich hier ausdrückliche Mordaufforderungen?
Explizit in der Regel nicht. Deswegen müssen wir lernen, Formulierungen der anderen zu hinterfragen, uns in deren Gedankenwelt einfinden und die für unsere Bedürfnisse zu übersetzen.
Die Formulierungen der anderen?
Unser Dschihad-terroristisches Gegenüber hat ein anderes Weltbild und damit auch eine andere Erklärung des Weltgeschehens, die viel religiöser ist. Wenn wir hier im Westen von Selbstmordattentätern sprechen, ist das nicht gleichzusetzen mit dem, was die Gegenseite, das militant-islamistische, als Märtyrer bezeichnet. Aus Sicht der Betroffenen der Terroranschläge, insbesondere der USA, war der 11. September eine Kriegserklärung. Aus Sicht der anderen, die sie begangen haben, war 9/ 11 eine Schlacht unter vielen. Die religiösen Dschihad-Terroristen teilen bis heute ihre Feinde nicht nach politischen, sondern nach religiösen Gesichtspunkten ein – in die Welt der Rechtgläubigen und die der Ungläubigen. Und ihren „heiligen Krieg“ kämpfen sie ohne Wenn und Aber gegen den internationalen Unglauben. Der islamistische Terrorismus ist heute virulenter denn je – auch online – und bedroht die Völkergemeinschaft, ob in West oder Ost, strategisch und langfristig.
Wie schätzen Sie den Umfang der Homepages für den deutschsprachigen Raum ein?
Die Anzahl hat auch hier zugenommen. Die Terrorgruppen haben in Europa auch so etwas wie islamistische informelle Mitarbeiter, fundamentalistische IM. Von der Sache, dem Dschihad-Gedankengut verpflichtete junge Leute, die per Aktivitäten im Netz ihren Beitrag für das große finale Ziel, die Errichtung des Kalifats, ihren Beitrag leisten, ohne selbst real zu kämpfen. Als bewaffneter Kampf, aber auch als ideologischer, also virtuell. Fanatiker beobachten in Deutschland, was passiert: Wie ist die Befindlichkeit der Bevölkerung, wie die Befindlichkeit der Parlamentarier, wie steht man Einsätzen in der Welt des Islam gegenüber. Es sind ernst zu nehmende Fundamentalisten, die nicht ihr eigenes Blut vergießen. Das überlassen sie anderen. Aber sie predigen die Teilnahme am Dschihad, bis hin zum Märtyrertod, vornehmlich im Netz. Al-Qaida-Gründer Ussama Bin Laden hat schon vor einem Jahrzehnt darauf hingewiesen, dass der „heilige Krieg gegen die Ungläubigen“ in mehreren Varianten geführt wird – bewaffnet, aber auch ideologisch, also virtuell.
Mitte Juli hat die deutschsprachige Seite „Globale Islamische Medienfront“ (GIMF) ihr Onlineportal wegen zu geringer Nachfrage eingestellt …
Der „heilige Krieg“ (Dschihad) wird nicht mehr nur bewaffnet geführt. Vor allem der ideologische Kampf findet im Internet statt und dient der Radikalisierung. Laut einer Studie des Simon-Wiesenthal-Zentrums gibt es über 6.000 Internetseiten, in denen zum Kampf gegen die Ungläubigen aufgerufen wird. Im März hatte der bayerische Verfassungsschutz erstmals im Internet eine Art Online-Universität für Terroristen entdeckt. „Lehrer“ gäben dort Fachwissen und Daten über Waffenkunde, Bombenbau, Guerillakampf und konspirative Kommunikation an „Schüler“ weiter, so der bayerische Innenminister Joachim Herrmann (CSU). „Die Bedeutung des ‚Cyberdschihad‘ in islamistischen Kreisen nimmt generell zu“, sagte er. Im Juni gab es in einem Pilotverfahren die erste Verurteilung wegen Werbens für eine terroristische Vereinigung im Internet in Deutschland. Ein 37-jähriger Iraker wurde vom Oberlandesgericht Celle zu drei Jahren Haft verurteilt. Er hatte eingeräumt, die Hassbotschaften der Anführer von al-Qaida im Chatroom „Al Ansar“ verbreitet zu haben. Chatrooms mit terroristischem Hintergrund gibt es inzwischen für Frauen und kindgerecht gestaltet. Für Frauen gibt es Tipps, wie sie ihre Kinder zu „Märtyrern“ erziehen können, und bekommen Ratschläge, wie sie selbst Selbstmordanschläge verüben können. Die Seiten für Kinder verstecken ihre Botschaften in Ausschreibung von Wettbewerben, Spiele und Videos. RH
… dennoch muss ich vor monokausalen Schlussfolgerungen warnen. Das Netz ist sehr wichtig, immens wichtig, was die Globalisierung des Dschihad mit all seinen Seitenzweigen und seinen Nebenfeldern betrifft – als ein virtuelles Mittel zum Zweck. Von schlecht gestalteten Seiten mit geringen Zugriffszahlen darf man sich nicht täuschen lassen. Der „heilige Krieg“ wird nach wie vor ganz konkret geführt. Wir haben sehr lange den Schwerpunkt unseres Interesses auf den bewaffneten Kampf gelegt, weil der natürlich auch in den Medien viel präsenter war und ist: Selbstmordanschläge, insbesondere schlimme Anschläge gegen zivile Ziele. Über lange Zeit ist der ideologische Kampf unterschätzt worden, aber auch ihn wird es noch über viele weitere Jahre geben, quantitativ und qualitativ mit unterschiedlichen Schwerpunkten.
Wie wichtig sind fundamentalistischen Seiten für die deutschen Muslime?
Junge deutsche Muslime haben die Möglichkeit, sich im Crashkurs in eine fremde Welt einzufinden. Es ist der Einstieg in die Gedankenwelt des „heiligen Krieges“, auf den man sich vorbereiten und an dem man auch teilnehmen kann.
Also können Muslime, die nicht dem islamistischem Spektrum angehören, durch einschlägige Seiten einen ideologischen Ruck erhalten?
Da müsste schon einiges zusammenkommen, Erlebnisse, die tiefgreifend sind, und es muss schon vorher eine Art Bereitschaft von Gewalt vorhanden sein. Aber einen Ruck kann es schon geben durch das Internet. Es ist doch eine Art virtueller Reiseführer durch die Welt des Dschihad.
Was bedeutet das für die Sicherheitslage in Deutschland?
Warten auf das „deadman walking“ in deutschen Städten. Warten auf den Big Bang.