Schüler unter Stress

Grundschüler stehen immer stärker unter Leistungsdruck. Zudem verläuft die Auslese beim Schulwechsel nach der vierten Klasse oft ungerecht

Die Studie: Zwei Soziologen von der Universität Mainz sowie ein Forscher der Universität Bremen haben für die Stadt Wiesbaden untersucht, welche Faktoren den Übergang von der Grundschule auf die weiterführende Schule bestimmen. Die Grundschullehrer geben den Eltern eine Empfehlung, welche Schulform sie für geeignet halten.

Die Ergebnisse: 81 Prozent der Wiesbadener Schüler aus der Oberschicht, aber nur 14 Prozent der Kinder aus der Unterschicht erhielt eine Gymnasialempfehlung. Hauptschulempfehlungen kamen bei Oberschichtkindern nahezu nicht mehr vor. Insgesamt erhielt knapp die Hälfte der Kinder eine Gymnasialempfehlung. BK

VON THOMAS GESTERKAMP

Ein Gymnasium am Niederrhein hat zum Tag der offenen Tür geladen. Hunderte von Eltern durchstreifen mit ihren Kindern das Gebäude. In der Aula lernen sie den Schulleiter und das Lehrerkollegium kennen, sie besichtigen Sporthalle, Computerraum und Chemielabor. Am Nachmittag sind die jungen Gäste zu Probestunden in Englisch, Mathematik, Physik oder Französisch eingeladen. Doch nur einige von ihnen können sich berechtigte Hoffnung machen, hier demnächst unterrichtet zu werden. Den anderen bleibt der Zugang verwehrt – weil ihr Notendurchschnitt nicht reicht oder sie keine Empfehlung für das Gymnasium bekommen.

Der Frankfurter Didaktikexperte Frank Nonnenmacher kritisiert das deutsche Bildungssystem als „ausgeklügelte Sortierungsmaschine, die den Menschen auf einen bestimmten Platz stellt“. So werde jede Lernkontrolle, jede Klassenarbeit zu einer Quelle von Hoffnungen. Und mehr noch von Ängsten.

Vor allem der Wechsel zur weiterführenden Schule ist für Grundschüler zu einer enormen psychischen Belastung geworden. Immer mehr Eltern wollten, dass ihr Kind unbedingt Abitur macht, beobachtet der Kölner Schulpsychologe Andreas Heidecke. Sonst habe der Nachwuchs später keine Chance auf dem Arbeitsmarkt. Die hohen familiären Ansprüche würden dem Leistungsniveau nicht immer gerecht, warnt Heidecke. Für viele Kinder sei es frustrierender, sitzen zu bleiben und das Gymnasium nach wenigen Jahren wegen zu schlechter Leistungen verlassen zu müssen, als von vornherein etwa die Mittlere Reife anzustreben.

Die Mitbestimmungsrechte der Eltern beim Schulwechsel sind je nach Bundesland verschieden. Nordrhein-Westfalen zum Beispiel hat die Möglichkeiten, den Empfehlungen der Grundschule nach der vierten Klasse nicht zu folgen, massiv eingeschränkt. Wenn Eltern ihre Sprösslinge gegen den Rat der Lehrer am Gymnasium anmelden, müssen die Kinder seit 2007 zunächst einen dreitägigen „Prognoseunterricht“ absolvieren. Nur wenn sie in dieser Probephase positiv auffallen, können sie doch noch an die höhere Schulform wechseln. Eine negative Begutachtung im Eignungstest durch die Schulaufsicht hingegen führt zur Ablehnung, dann ist nur der Besuch einer Haupt- oder Realschule möglich. Noch rigider praktizieren Bayern und Baden-Württemberg die soziale Auslese: Dort entscheiden in der Regel einfach die Noten.

„Es gibt Mobilität im deutschen Bildungssystem – aber meist nur nach unten“

Der daraus entstehende Stress vom ersten Schultag an setzt Kinder unter Dauerspannung. „Eltern suchen immer früher Hilfe beim schulpsychologischen Dienst“, sagt Schulpsychologe Heidecke. Manche forcieren die kindlichen Versagensängste noch, indem sie den Nachwuchs auch zu Hause ständig auf Leistung trimmen. Eltern sollten sich keinesfalls als verlängerter Arm der Schule betrachten, empfiehlt dagegen Heidecke. Er rät zur Gelassenheit, gerade wenn der Schulwechsel tatsächlich ansteht. Die Sorgen der Väter und Mütter, ihr Nachwuchs könne abgehängt werden, sei angesichts der starren Strukturen des deutschen Bildungssystems zwar verständlich. Die eigenen Vorstellungen und Wünsche seien jedoch mit denen des Kindes nicht unbedingt identisch, betont Heidecke. Nach seiner Erfahrung haben Kinder „ein ausgesprochen gutes Gefühl dafür, welche Schule zu ihnen passt“.

Viele Erwachsene wissen aus eigener Lebenserfahrung, dass der Besuch einer Haupt- oder Realschule die beruflichen Möglichkeiten einschränken kann und ein späterer Wechsel zum Gymnasium auf große Hindernisse stößt. „Es gibt Mobilität im deutschen Bildungssystem – aber meist nur nach unten“, kommentiert Klaus Klemm von der Universität Duisburg-Essen. Zwar behaupten Schulämter und Ministerien, jede Schullaufbahn sei korrigierbar. In der Praxis aber ist das dreigliedrige System in Deutschland wenig durchlässig und enthält, wie die Pisa-Ergebnisse gezeigt haben, auch soziale Sprengkraft.

Nicht nur Begabung oder Können, sondern vor allem die familiären Rahmenbedingungen entscheiden. So erhalten Kinder aus der Ober- und Mittelschicht dreimal häufiger die Empfehlung für das Gymnasium als Kinder aus Arbeiter- oder Migrantenfamilien. „Untersuchungen haben gezeigt, dass Lehrer vom sozialen Hintergrund beeinflusst werden“, betont Wilfried Bos, Leiter des Dortmunder Instituts für Schulentwicklungsforschung. Es spielt bei der Gymnasialempfehlung eine wichtige Rolle, ob die Eltern eines Kindes Ärzte sind oder Hartz IV beziehen. Genau das belegt eine aktuelle Studie einer Forschergruppe aus Mainz (siehe Interview auf dieser Seite).