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Archiv-Artikel

Brennende Berge

Politische Brisanz kann aber nicht das einzige Kriterium sein: Die türkische Schriftstellerin Oya Baydar schreibt in „Verlorene Worte“ über den Ost-West-Konflikt in ihrem eigenen Land

VON KOLJA MENSING

Ömar Eren hat schon lange keinen anständigen Satz mehr zu Papier gebracht. Der Bestsellerautor ist ausgebrannt. Eines Nachts, als er seinem Selbstmitleid mit ein paar Drinks gerade neue Nahrung gegeben hat, passiert es dann. Am Busbahnhof von Ankara fällt ein Schuss. Ein Schrei, Menschen geraten in Panik, und plötzlich findet Ömar Eren sich neben einer jungen kurdischen Frau wieder, die in einer Blutlache am Boden liegt. Er begleitet sie und ihren Freund ins Krankenhaus. Als er erfährt, dass das Paar auf der Flucht ist, bietet er seine Hilfe an. Kurz darauf sitzt Ömar Eren in einem Reisebus, auf dem Weg in ein kurdisches Dorf: Er, der nichts mehr zu erzählen weiß, ist selbst Teil einer Geschichte geworden.

„Verlorene Worte“ heißt dieser Roman der türkischen Schriftstellerin Oya Baydar. Er beschreibt eine Reise in den tiefsten Osten der Türkei, die für Ömar Eren zugleich eine Reise in die eigene Vergangenheit ist. In den Siebzigerjahren gehörte er zu einer Gruppe linker Intellektueller, die den Sozialismus aus den Städten aufs Land bringen wollten und in den entlegenen Bergen Anatoliens Brücken bauten, „als Symbol dafür, dass die ausgestreckte Hand der westlichen Jugend sich mit der Hand des Ostens traf“. Diese Hoffnungen haben sich 1980 mit dem Militärputsch zerschlagen. Doch erst jetzt begreift Ömar Eren die tragischen Ausmaße dieses innertürkischen „Ost-West-Konflikts“. Der Schriftsteller, dessen Romane in den liberalen Kreisen von Istanbul und Ankara verschlungen werden, wird mit brennenden Dörfern, Armee-Razzien und Hinrichtungen konfrontiert, mit erzwungenen Rekrutierungen durch die Rebellen der PKK – und mit Ehrenmorden in kurdischen Familien: Die junge Frau am Busbahnhof von Ankara ist von ihrem eigenen Bruder angeschossen worden.

In der fiktive Biografie von Ömar Eren spiegelt sich der Lebenslauf Oya Baydars. Die 1940 geborene Schriftstellerin war Gründungsmitglied der sozialistischen Arbeiterpartei der Türkei und kämpft seit langem für die Rechte der Kurden. Und so ist „Verlorene Worte“ am stärksten und ehrlichsten, wenn Oya Baydar über die enttäuschten Hoffnungen ihres Alter Ego und seiner Flucht in die wirklichkeitsferne Konstruktion eines „geheimnisvollen Ostens“ schreibt. Darüber hinaus hat sie ihrem Roman allerdings einiges an Ballast aufgeladen. Neben Ömar Erens Reise in die Berge erzählt sie die tragische Geschichte des kurdischen Pärchens, sie begleitet die Frau des Schriftstellers, die sich von ihrem Mann entfremdet hat, auf eine Reise nach Norwegen und lässt sie dort auf den gemeinsamen Sohn treffen, der seine Lebensgefährtin bei einem Bombenanschlag verloren hat. Das ist zu viel Krise, Drama, Tod, selbst für knapp 500 Seiten. Dazu kommt die streckenweise unglaublich pathetische und floskelhafte Sprache. Wenn „in der Einsamkeit der Berge viel gedacht und wenig gesprochen“ wird, dann ist Oya Baydar selbst zum Opfer des scheinheiligen „neuen Orientalismus“ der türkischen Großstadtintellektuellen geworden.

Dass man „Verlorene Worte“ nicht sofort zur Seite legt, hat natürlich mit der „Brisanz“ des Themas zu tun. Es ist schließlich gerade mal ein paar Wochen her, dass die Auseinandersetzungen zwischen der PKK und dem türkischen Staat mit der „Entführung der drei deutschen Bergsteiger“ wieder einmal Schlagzeilen gemacht hat. Ein Kriterium für die Literaturkritik ist das allerdings nicht. Mit Blick auf die Frankfurter Buchmesse, die die Türkei in diesem Jahr als Gastland eingeladen hat, kann man nur davor warnen, die von zahlreichen Verlagen angekündigten Übersetzungen immer nur auf Nachrichtenaktualität und vermeintlichen politischen Sprengstoff abzuklopfen. Ein gutes Buch muss eben immer auch ein gutes Buch sein.

Oya Baydar: „Verlorene Worte“. Aus dem Türkischen von Monika Demirel. Claassen, Berlin 2007. 455 Seiten, 22,90 Euro