: Das Rechtssystem der Warlords
aus Kabul JAN HELLER
„Auch gegen Widerstände werde ich einen Rechtsstaat aufbauen.“ Dies sagt der afghanische Interimsstaatschef Hamid Karsai, als er kurz vor Weihnachten in Rom eine internationale Konferenz zu Rechtsfragen in seinem Land eröffnet. Wie weit Afghanistan von diesem Ziel jedoch noch entfernt ist, zeigen drei Vorfälle, die sich beinahe zur gleichen Zeit abspielen.
An dem Tag, an dem Karsai in Rom seine Rede hält, wird in Kabul Abdul Gaffur Ettekad, Herausgeber der Zeitung Farda (Morgen), wegen der Veröffentlichung einer regierungskritischen Karikatur festgenommen. Das Blatt hatte Karsai als Harmoniumspieler und seinen Finanzminister, den Weltbank-Ökonomen Aschraf Ghani, als Trommler auftreten lassen, umtanzt von mit Dollarbündeln wedelnden Geldgebern. Hintersinnig legt die Karikatur nahe, dass die beiden US-Lieblinge in der Kabuler Interimsverwaltung die Musik machen, die die internationale Gemeinschaft gern hört.
Nur wenige Tage vorher, Karsai war schon in Europa unterwegs, bat der Polizeichef der Südprovinz Helmand in Kabul um die Erlaubnis, Amputationsstrafen entsprechend dem islamischen Recht, der Scharia, wieder einführen zu dürfen, um der ausufernden Kriminalität Herr zu werden.
Kriegsverbrechervor Gericht
Oder der Fall von Abdullah Schah, der im September als erster Afghane wegen Kriegsverbrechen zu 20 Jahren Haft verurteilt wurde. Fazl Hadi Schinwari, der Oberste Richter, erklärte, Schah hätte eigentlich zum Tode verurteilt werden müssen, und setzte eine Wiederholung des Prozesses an. Am 15. Oktober sprach das Gericht nach nur wenigen Stunden Verhandlungsdauer auftragsgemäß das neue Urteil. Internationale Menschenrechtler, die das Verfahren beobachtet hatten, waren empört und meinten, dass so das Anliegen, Kriegsverbrecher vor Gericht zu bringen, unterminiert worden sei.
25 Jahre Krieg haben Afghanistans staatliche Institutionen bis zum Zusammenbruch ausgehöhlt. Ein einheitliches Rechtssystem gab es nicht mehr, lokale Machthaber übernahmen seine Funktionen. Auch Justizminister Abdul Rahim Karimi bestätigt, dass Richter in vielen Gebieten nicht „fair“ Recht sprechen könnten und die Gerichte in den Händen der Warlords seien.
Selbst in einigen Kabuler Stadtteilen sind die Räuberbanden, die nachts mit Vorliebe wohlhabende Basarhändler ausrauben, identisch mit der Polizei. Besonders berüchtigt sind die Kommandeure des prosaudischen Warlords Sayyaf. Dieser hat offiziell zwar keine staatliche Funktion inne, brachte aber Gefolgsleute in Schlüsselpositionen unter – so etwa den Obersten Richter Schinwari. Im Westen Kabuls halten Sayyafs Leute Entführte in Privatgefängnissen fest, um von den Familien Lösegeld zu erpressen. Bisher wurde nicht bekannt, dass staatliche Behörden oder die internationale Schutztruppe Isaf dagegen vorgegangen sind.
Auch die staatlichen Gefängnisse haben oft sonderbare Insassen, darunter Frauen, die nichts anderes „verbrochen“ haben, als ihren Ehemännern davonzulaufen. Da es an Mitteln fehlt, die Gefangenen auch nur halbwegs nach internationalen Standards zu versorgen, sind die Familien für Verpflegung und Wäsche verantwortlich. Gefängnisangestellten gibt das die Möglichkeit, durch Erteilung von Einlassgenehmigungen etwas zusätzlich zu verdienen.
Rechtsprechungin Kriegszeiten
Dennoch verfügt Afghanistan über ein erstaunliches institutionelles „Gedächtnis“. In den 400 Distrikten arbeiten weiterhin Gerichte und ihre – von den unterschiedlichen Regimen ernannten – Richter und Untersuchungsorgane. Und dies, obwohl sie jahrelang nicht von der Regierung bezahlt wurden. Tausende Gesetze sind in Kraft, die meist auf der Verfassung von 1964 basieren, die das Bonner Afghanistan-Abkommen vom Dezember 2001 provisorisch wieder herstellte. Widerspricht es nicht den Interessen der jeweiligen lokalen Machthaber, können Richter auf dieser Grundlage durchaus Recht sprechen. Der Warlord sorgt dann dafür, dass das Urteil auch durchgesetzt wird. Wenn diese Strukturen wieder verstaatlicht werden, kann man darauf aufbauen.
Bis 1978 existierte auch eine relativ liberale Rechtspraxis, die den Islam als Staatsreligion nie in Frage stellte. Scharia-Gerichte waren jedoch unbekannt. Erst der Regimewechsel 1978 mit seinen für afghanische Verhältnisse radikalen sozialen Experimenten wie Landreform oder Koedukation sowie der sowjetische Einmarsch änderten dies. So wie im Alltag Burka und Bart als Symbole für den Islam in Mode kamen, setzten sich die Träger der islamischen Ideologie – die vorher am unteren Rand der sozialen Hierarchie angesiedelten Mullahs – auch in der Rechtsprechung durch. In von Mudschaheddin kontrollierten Gebieten kamen Amputations- und andere Strafen in Gebrauch.
Karsais Übergangsadministration muss also das Fundament für ein neues, einheitliches Rechtssystem legen. Wichtige Fragen müssen entschieden werden – so etwa zum Verhältnis von Staat und Religion oder von islamischem Recht zu Frauen- und Minderheitenrechten. Doch Karsais Schwäche ist es, dass er es allen recht machen will, da ihm die Machtbasis fehlt, um eigene Positionen durchsetzen zu können. Deshalb muss er immer wieder integrativ argumentieren wie in Rom: Er sei davon überzeugt, dass auch die Warlords eine Rechtsreform mittragen werden.
Was sie auch tun – aber nur zu ihren Bedingungen. Unter Berufung auf die islamischen Werte, für die sie gegen die sowjetischen Invasoren kämpften, wollen die regionalen Führer ihre Macht nun auch juristisch festschreiben lassen. Eine islamische Verfassung, die hinter die Standards von 1964 zurückfällt, liegt seit den 90er-Jahren in der Schublade.
Noch bevor die Verfassungskommission begonnen hat richtig zu arbeiten, beugt sie sich diesem Druck. Bei einer Konferenz von Nichtregierungsorganisationen Anfang Dezember in Bonn meinte der eigentlich nicht als fundamentalistisch bekannte Musa Marufi, dass man über eine Trennung von Staat und Religion „nicht einmal nachdenken“ dürfe. Ein anderer lehnte das Recht auf politische Betätigung ab, weil die afghanische Bevölkerung zu ungebildet für die Demokratie sei.
Gleichzeitig versäumen es UNO und westliche Regierungen, ausreichend Druck für die Einhaltung der in Bonn vereinbarten politischen Grundsätze zu machen. Diese schreiben neben der Achtung der islamischen Werte pluralistische und demokratische Verhältnisse für das künftige Afghanistan vor. Die UNO ließ zwei Monate über die in Bonn festgelegte Frist hinaus verstreichen, bevor die Verfassungskommission überhaupt gebildet wurde. Die Kommission für Gesetzesreform musste nach Monaten der Untätigkeit sogar neu zusammengesetzt werden. Eine unabhängige Wahlkommission ist bis heute nicht vorgesehen. Wie ohne sie freie Wahlen bis Ende 2004 stattfinden sollen, bleibt das Geheimnis des UN-Sondergesandten Lakhdar Brahimi.
Initiativen gehen bisher nur von nichtstaatlicher Seite aus. Die im Rat der Verteidiger von Frieden und Demokratie zusammengeschlossenen Gruppen veranstalteten in Kabul ein Seminar mit Vertretern der Zivilgesellschaft, die eine öffentliche Verfassungsdebatte forderten. Doch der Einfluss dieser Kräfte ist bislang, auch wegen mangelnden Interesses im Westen, gering.