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Archiv-Artikel

Fliesenschrubben mit der Zahnbürste

Fußtritte, Schläge, Demütigungen, Vergewaltigungen: Misshandlungen waren in kirchlichen Kinderheimen in den 50er und 60er Jahren üblich. Das zeigt eine Studie, mit der die hannoversche Landeskirche ihre Vergangenheit bereinigen will

Schläge statt Geld

Rund eine halbe Million Kinder und Jugendliche sind nach einer Schätzung des Spiegel-Journalisten Peter Wensierski in kirchlichen Heimen Opfer von Gewalt geworden. Viele leiden noch heute darunter, verschweigen diesen Teil ihres Lebens aus Scham – auch gegenüber Angehörigen. Mit seinem Buch „Schläge im Namen des Herren“ hat Wensierski in vielen Einrichtungen und unter Betroffenen Debatten ausgelöst. Diakonie-Präsident Klaus-Dieter Kottnik weist die Bezeichnung „Zwangsarbeit“ für die Arbeiten zurück, die die Jugendlichen in den Heimen unbezahlt, ohne Sozialversicherung und über die üblichen Arbeitszeiten hinaus verrichten mussten. Ein Petitionsausschuss des Bundestages hat 2006 Opfer von Misshandlungen und wissenschaftliche Experten zum Thema angehört. Im Herbst wird eine Empfehlung des Ausschusses erwartet. Betroffene hoffen, dass das von ihnen erlittene Unrecht als Menschenrechtsverletzung anerkannt wird.  ABE

VON ANNEDORE BEELTE

Es reichte schon, die Schule zu schwänzen. Auch nach einem kleineren Diebstahl gerieten Kinder im Nachkriegsdeutschland schon ins Visier der Fürsorgeerziehung. Jugendliche wurden wegen Lappalien aus den Familien gerissen und in Kinderheime eingewiesen.

Ein von der hannoverschen Landesbischöfin Margot Käßmann angeregtes Projekt der Diakonie unter dem Titel „Gewalt und Unrecht in der Heimerziehung der 50er und 60er Jahre“ erforscht nun, was die Jugendlichen in solchen Einrichtungen durchgemacht haben: Fußtritte, Schläge, Demütigungen und sogar Vergewaltigungen seien nicht „bedauerliche Einzelfälle“, sondern die Regel gewesen.

Projektleiter Hans Bauer hat in neun Einrichtungen der evangelischen Kirche in Niedersachsen recherchiert.

Ehemalige Heimkinder hätten ihm vom sexuellen Missbrauch durch das Personal der Einrichtungen berichtet, sagte Bauer. „Da vergingen sich Erzieherinnen an 13-jährigen Jungen und umgekehrt noch häufiger Erzieher an Mädchen. Da ist beides geschehen.“ Männer, die heute im Rentenalter seien, hätten ihm unter Tränen das ihnen zugefügte Leid geschildert.

In der Diakonie Freistatt, die bis heute mehrere Standorte in Niedersachsen unterhält, landeten die hartnäckigen Fälle: Jugendliche Kriminelle ebenso wie „Wegläufer“, die mehrfach nach Hause geflüchtet waren. Die Insassen sollten „ans Arbeiten gewöhnt“ werden und für ihren Lebensunterhalt selbst aufkommen – durch Schwerstarbeit: Torfstechen. Unbezahlt schufteten die jungen Männer. Wer nicht genug schaffte, kassierte Hiebe.

Wolfgang Rosenkötter, der mit 16 Jahren nach Freistatt kam, berichtet von den Misshandlungen der Aufseher. Im Tagesraum stand ein Billardtisch. Die jungen Männer mussten im Entengang um den Tisch watscheln, bis sie umkippten. Wenn sich einer aufrichtete, schlugen ihm die Aufseher den Rücken blutig. Über eine weitere Variante der Demütigungen berichtet Bauer: „Heiminsassen mussten Fliesen mit der Zahnbürste schrubben oder wurden tagelang in fensterlose Verliese eingesperrt.“ Weitere Schikanen: entwürdigende Behandlungen von Bettnässern. Außerdem, sagt Bauer, habe man den Jugendlichen im Heim auch ihre Bildungsmöglichkeiten genommen, ihr Recht auf freie Berufswahl und ihr Briefgeheimnis missachtet.

Die Täter, sagt Rüdiger Scholz von der Diakonie Freistatt, waren meist nicht älter als die Opfer: Jungdiakone, die ihre Ausbildung absolvierten.

Immerhin: Die Diakonie Freistatt hat sich ihrer Vergangenheit gestellt. Ein Buch über dieses dunkle Kapitel ist in Arbeit. Ehemalige Insassen werden aktiv in die aktuelle Arbeit eingebunden und unterstützen die heutigen Heimkinder als Vertrauenspersonen.

Einige der damaligen Jungdiakone sind bereit, sich mit den Insassen von einst an einen Tisch zu setzen. Einer gestand: „Ja, mir ist die Hand ausgerutscht.“

Mit dem Schuldeingeständnis der Ehemaligen sieht Scholz von der Diakonie jedoch keine Entschädigungen verknüpft: „Das muss auf politischer Ebene diskutiert werden.“ Behörden und Gerichte, die die Jugendlichen in den Einrichtungen untergebracht haben, seien hier auch involviert. Für die juristische Aufarbeitung ist es oft zu spät.

Regina Eppert vom Verein ehemaliger Heimkinder begrüßt, dass die kirchlichen Träger ihre Geschichte aufarbeiten. „Aber es kommt zu wenig bei uns persönlich an“, findet sie. Statt weiterer Studien wünscht sie sich eine öffentliche Entschuldigung. Sie selbst bemüht sich schon seit langem um ein Gespräch mit Erzbischof Zollitsch, dem Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz. Eine Antwort erhielt sie nie. „Klar“, sagt Eppert, „vielen geht es auch um eine Abfindung.“ Viele der Opfer leben bis heute in Armut, Rentenversicherungen rechnen die Zwangsarbeit nicht an.

Das Bistum Osnabrück hat indessen eine Umfrage in seinen Jugendhilfeeinrichtungen gestartet. In fünf Heimen stießen die Katholiken auf drei Fälle, in denen ehemalige Insassen mit Vorwürfen zurückkehrten. In einem Fall wurde eine deutliche Entschuldigung ausgesprochen, in den anderen hatten sich die Vorwürfe im Gespräch „nicht erhärtet“, sagt Bistumssprecher Roland Knillmann. Das dunkle Kellerverlies, das die betroffene Person in ihrer Erinnerung quälte, habe es in dem Gebäude nie gegeben, wie sich bei einem gemeinsamen Rundgang zeigte. Knillmann: „Hier ist wichtig, dass man die Leute ernst nimmt und ihnen zuhört. Aber man kann sich nicht für etwas entschuldigen, was nie passiert ist.“